/ April 10, 2021/ Aufsätze, Publikationen

      I.          Einführung

Im Sammlungskatalog zur Moderne des Frankfurter Städel wird der 93-jährige Altbundeskanzler Helmut Schmidt nach seinem Verhältnis zur Kunst und vor allem zum Expressionismus befragt.[1] Er erinnert sich an die Jahre des Nationalsozialismus und die Verfemung der Avantgarden. Seine Liebe zu Emil Nolde sei auf die „Kinderzeit zurückzuführen, aber nicht nur zu Nolde, sondern zu fast allen Malern der Brücke und des Blauen Reiters“.[2] Schmidt war sicherlich einer der prominentesten Anhänger der beiden Künstlergruppen in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Erinnerungen sind repräsentativ für eine Generation, die von der Erfahrung des Nationalsozialismus so umfassend und nachhaltig geprägt wurde, dass sie sich aus ästhetischen, aber auch politischen Gründen lebenslang für eine bestimmte, als widerständig oder zumindest verfemt verstandene Richtung moderner Kunst einsetzte, den Expressionismus.

Die vorliegende Betrachtung der Expressionismus-Rezeption der Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland folgt dem Gedanken von Gregor Langfeld, dass in den 1950er-Jahren keineswegs die gesamte Moderne mit all den verschiedenen Zweigen der Avantgarde rehabilitiert worden sei. Vielmehr sei es infolge des Nationalsozialismus zumindest im Westen „insbesondere zur Kanonisierung des Expressionismus und expressionistischer Tendenzen“ gekommen.[3] Mario von Lüttichau hat bereits vor 25 Jahren einen direkten Zusammenhang zwischen der besonderen Wertschätzung von Brücke und Blauem Reiter nach 1945 und deren vorheriger Verfolgung hervorgehoben: „Der Nachkriegserfolg der modernen Kunst, des ‚Expressionismus‘ schlechthin, ist ohne die Aktion ‚Entartete Kunst‘ der Nationalsozialisten – so unglaublich dies auch klingen mag – nicht erklärbar. Die ‚klassische Moderne‘ wurde zum Märtyrer einer kulturhistorischen Epoche, deren Wunden mit aller Sorgfalt und Sensibilität gepflegt werden mussten.“[4] Diese Entwicklung kann aus heutiger Sicht als durchaus symptomatisch für den Kunstbetrieb der Zeit gelten. So stellt Christian Fuhrmeister nach 1945 „Kontinuitäten und starke konservative Beharrungskräfte (in Künstlerverbänden wie bei Sammlern, Händlern und Ausstellungsbesuchern)“ und ein „selektives Moderne-Verständnis“ fest [5] Diese spezifische Form der Expressionismus-Rezeption diente nicht zuletzt auch der persönlichen Legitimation oder auch Rehabilitation einiger Akteure des Kunstbetriebs nach dem Krieg.

   II.          Ausstellungen in den Besatzungszonen 1945–1949

Das Ausstellungswesen unterlag in der unmittelbaren Nachkriegszeit kunstfremden, politischen Bedingungen, da in Deutschland alle öffentlichen Aktivitäten von den vier Besatzungsmächten gesteuert wurden. Unmittelbar nach 1945 praktizierte die Sowjetische Militär-Administration in Deutschland (SMAD) eine verhältnismäßig liberale Politik, um Künstler und ‚Intelligenz‘ für den Aufbau einer neuen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zu gewinnen, während die Kulturpolitik im Westen etwas restriktiver war. In den darauffolgenden Jahren änderte sich die Kulturpolitik im Osten. Die anbrechende Formalismusdiskussion unter Aufnahme der Expressionismus-Debatte der 1930er Jahre sowie die Zuschreibung von Dekadenz und Bürgerlichkeit deuteten den Weg der Expressionismus-Rezeption in der DDR an. In den westlichen Besatzungszonen erkannten die Amerikaner und Briten den Nutzen, den sie von einer personellen Kontinuität der Funktionseliten in der neuen Bundesrepublik haben würden, die zunehmend als Bollwerk gegen den Kommunismus und als Aushängeschild der freiheitlich-kapitalistischen Weltordnung verstanden wurde. Stand bei den kulturellen Aktivtäten anfangs noch die Entnazifizierung und eine antifaschistische Haltung im Vordergrund, wurde diese schnell von der Blockbildung und dem sich abzeichnenden Kalten Krieg verdrängt. Kunst und Kultur, und so auch der Expressionismus, wurden zu Mitteln im Kampf der Systeme in Ost und West, ebenso wie die Währungsreform und die Gründung der beiden deutschen Republiken.

1.     Allgemeine Deutsche Kunstausstellung, Dresden 1946

Die bedeutendste Ausstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit von Gegenwartskunst und Vorkriegsmoderne war mit knapp 600 Werken von 250 Künstlerinnen und Künstlern die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Dresden 1946.[6] Sie vereinte in der Stadthalle am Nordplatz Werke aus allen besetzten Zonen Deutschlands mit Ausnahme der britischen. Initiiert durch den Künstler und Kulturfunktionär Herbert Gute, wurde die Ausstellung von der SMAD finanziert und durch Gute und Will Grohmann im Auftrag der Landesverwaltung Sachsen, des Rats der Stadt Dresden und des Kulturbunds organisiert. Jurymitglieder waren u. a. Karl Hofer und Max Pechstein. Die Künstler der Brücke erhielten an ihrer alten Wirkungsstätte einen Sondersaal und waren abgesehen von Emil Nolde mit insgesamt zwölf Gemälden gut vertreten.[7] Es fehlten naturalistische und dem Klassizismus der NS-Zeit verbundene Werke, aber auch Dada und Konstruktivismus. Mit Ausnahme von Paul Klee wurde zudem der gesamte Blaue Reiter und die rheinischen Expressionisten ausgespart. Dies lag wohl an der fehlenden Unterstützung durch die britische Administration. Denn angesichts des publizistischen Engagements Grohmanns für Kandinsky, Kirchner und Klee ist eine grundsätzliche Ablehnung abstrahierender Arbeiten (nicht nur) des Blauen Reiters durch ihn unwahrscheinlich. Bei anderen Jurymitgliedern hingegen sind durchaus auch kulturpolitisch-weltanschauliche Vorbehalte zu vermuten, wie Äußerungen des SED-Kulturideologen und Mitorganisators Gerhard Strauss vermuten lassen, der die Offenheit gegenüber der Moderne als „Taktik“ bezeichnete.[8] Wichtige Leihgeber waren die noch in Deutschland lebenden Sammler und Galeristen wie Günther Franke (München), Eduard (und Christel) Henning (Halle) oder Ferdinand Möller (Neuruppin). Gleiches galt für die noch lebenden Künstler, die für Ausstellungen wie diese eigene Werke ausliehen; bereits verstorbene oder emigrierte Künstler wie Jawlensky, Kandinsky, Kirchner, Klee, Marc, Macke oder Mueller konnten keinen Einfluss mehr auf Ausstellungen der Nachkriegszeit und damit auf ihre Rezeption nehmen.

Die anlässlich der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung betonte Verbindung der expressionistischen Vorkriegsmoderne mit der Gegenwartskunst hatte zum Ziel, die unter den Nationalsozialisten verfemte Kunst zu rehabilitieren und zugleich eine größere kulturelle Kontinuität zu propagieren. Damit zeichnete die Dresdener Ausstellung einen Weg vor, der besonders für das westdeutsche Ausstellungswesen beispielgebend werden sollte. In der SBZ kam es in den folgenden Jahren jedoch unter der sowjetisch diktierten Kunstpolitik zu einer Abkehr von jeder Form der modernen Kunst. Dabei griff die offizielle Kunstpublizistik zeitweilig auf ein Vokabular zurück, das der diffamierenden Wortwahl im Nationalsozialismus nicht fremd war.[9] Die ablehnende Rezeption der Moderne und des Expressionismus, die anlässlich der Dresdener Ausstellung geäußert und publiziert wurde, wurde von der SMAD und den SED-Kulturfunktionären entsprechend instrumentalisiert.

2.     Ausstellungen in den Westzonen

Die Ausstellung in Dresden 1946 war der erste und in diesem Umfang auch letzte Versuch einer halbwegs repräsentativen gesamtdeutschen Ausstellung in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Museen, die nicht mehr oder noch nicht über größere Moderne-Bestände verfügten, waren auf das Engagement der Sammler angewiesen. Ein berühmtes Beispiel ist der Kölner Rechtsanwalt Josef Haubrich. Er hatte eine hervorragende Sammlung expressionistischer Kunst mit Werken der Brücke sowie des Blauen Reiters zusammengetragen und diese 1946 dem Wallraf-Richartz-Museum geschenkt. Bis 1949 tourte die Sammlung durch 15 Städte in den Westzonen.[10]

Sammler wie Haubrich, aber auch die noch in Deutschland lebenden Künstler konnten wie oben angedeutet durch Leihgaben Einfluss auf die Ausstellungspolitik nehmen. So war ein großer Teil der Brücke-Künstler zum Beispiel stärker vertreten als die verstorbenen, exilierten oder ausländischen Künstler des Blauen Reiters.[11] Ernst Ludwig Kirchner bildete hier eine Ausnahme. Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel und Max Pechstein lebten nach 1946 allesamt in den Westzonen und konnten ihre Position in der westdeutschen Kunstszene durch Schenkungen, Stiftungen und gute Kontakte aktiv stärken. Dabei griffen sie das Narrativ des vormals verfemten Künstlers als Symbol der Freiheit auf. Ein berühmt-berüchtigtes Beispiel für diese Art des Umgangs mit der eigenen Biografie ist Emil Nolde, der nach der Befreiung Deutschlands Papiere und Aufzeichnungen verbrannte, die ihm hätten schaden können, und sich darüber hinaus darum bemühte, eine andere Lesart seiner Rolle in den Jahren des Nationalsozialismus zu begünstigen.[12] Wichtige Kunsthistoriker wie Werner Haftmann standen ihm dabei helfend zur Seite. Noldes späteres Renommee als einer der populärsten und teuersten Künstler des Expressionismus belegt den Erfolg dieses Unterfangens.

III.          Expressionismus-Rezeption in der DDR – von Bitterfeld bis Berlin

Das Ausstellungswesen in der SBZ/DDR war bis in die 1980er Jahre hinein überaus stark durch kulturpolitische Vorgaben reglementiert, wobei sich Phasen der Repression mit solchen verhaltener Lockerung abwechselten.[13] Um die Expressionismus-Rezeption nachvollziehen zu können, muss neben der Publizistik deshalb vor allem die Kulturpolitik in den Blick genommen werden.[14] Seit 1948 dominierte die an Georg Lukács angelehnte Auffassung, der Expressionismus sei künstlerischer Wegbereiter des Faschismus gewesen. Unter dem Eindruck der Blockbildung und des ideologischen Kampfes gegen den Westen verschob sich der Akzent in den späten 1940er Jahren allmählich. Auf dem Höhepunkt der Berlinkrise im November 1948 erschien der Artikel des sowjetischen Kulturkommissars Alexander Dymschitz „Über die formalistische Richtung in der deutschen Malerei“ in der Täglichen Rundschau, in dem der Verfasser die Moderne pauschal als dekadent, bürgerlich, irrational und pessimistisch diskreditierte und damit die offizielle kunstpolitische Leitlinie der SMAD bekannt gab. Spätestens jetzt galten die Künstler von Brücke und Blauer Reiter in der DDR auf lange Zeit als Unpersonen, wobei auch Karl Schmidt-Rottluff trotz seiner anfänglichen Aktivität in der SBZ explizit das Verdikt des Formalisten traf.[15] Ebenfalls 1948 brachte Walter Ulbricht die offizielle SED-Linie auf den Punkt: „Wir haben als Partei das Recht, gegen den Expressionismus und andere falsche Auffassungen Stellung zu nehmen.“[16] Diese Position wurde anschließend in allen Artikulationen der offiziellen Kulturpolitik sukzessive durchgesetzt. Entsprechend fehlten Werke von Brücke und Blauer Reiter bei der zweiten großen Kunstausstellung in Dresden 1949 gänzlich.

Nach Stalins Tod 1953 änderte sich die offizielle Haltung erneut. Die künstlerische Kontrollinstanz der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten wurde aufgelöst. Die SED machte Zugeständnisse, um nicht die gesamte Künstlerschaft gegen sich aufzubringen. Brücke-Künstlern wie Max Pechstein wurde zugutegehalten, dass er aus der Arbeiterklasse kam. Pechstein und Erich Heckel rechnete man an, in der Novembergruppe aktiv gewesen zu sein; Heckel hatte außerdem 1927 ein Plakat zur Unterstützung der Hungernden in der Sowjetunion entworfen. Eine verhalten positive Sicht auf die Brücke formulierte 1956 der Kunstwissenschaftler Horst Jähner in der Bildenden Kunst, in dem er den Kollektiv-Charakter der Künstlergruppe und ihre Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Ordnung im Kaiserreich betonte; allein, sie hätten nicht erkannt, dass sie „aus ihrer egozentrischen Einstellung heraus […] keinen unmittelbaren Kontakt mit der Arbeiterklasse finden konnten“ und seien ihrem „bürgerlichen Themenkorsett“ verhaftet geblieben.[17]

Mit der erneuten restriktiven kulturpolitischen Kurswende infolge der Kulturkonferenz der SED 1957, auf der die Parteilichkeit der Kunst eingefordert wurde, wurde auch die etwas offenere Haltung gegenüber dem Expressionismus revidiert. Den Brücke-Künstlern wurde vorgeworfen, die Menschen hässlich und verzerrt wiederzugeben, sie jeder Würde zu berauben, ‚volksfremd‘ zu arbeiten und lediglich ein „Phänomen bürgerlicher Dekadenz“ zu sein, wie Kurt Liebmann in der Bildenden Kunst schrieb.[18] Im Verlauf der 1960er Jahre wandelte sich die offizielle Wahrnehmung des Expressionismus der Brücke ein weiteres mal. An die Stelle der Betonung der pessimistischen und dekadenten Darstellung menschlichen Elends im Widerspruch zum sozialistischen Menschenbild trat das Narrativ des Expressionismus als Teil des humanistischen Erbes der Arbeiterklasse. Diese rhetorische Öffnung betraf freilich nicht die gesamte Moderne, Konstruktivismus und Abstraktion blieben wenig akzeptiert.

Der Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1969 leitete eine weitere Phase der relativen Liberalisierung ein, die eine zunehmende Offenheit gegenüber der Moderne mit sich brachte. Insgesamt trugen die Entspannungspolitik Willy Brandts und die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR gegenüber dem Westen in den 1970er und 1980er Jahren zur Rehabilitation des Expressionismus und vor allem der Brücke bei. Seit dem Ende der 1970er Jahre wurden den Gruppen immer mehr Ausstellungen gewidmet, und es ist unter anderem dem Einsatz von Andreas Hüneke zu verdanken, dass nicht nur über die ›entartete Kunst‹, sondern auch über die die Rolle des Expressionismus im Nationalsozialismus geforscht und publiziert wurde. 1986 konnte Hüneke mit großem Erfolg eine Anthologie mit Schriften und anderen Zeugnissen des Blauen Reiters publizieren. Im Untertitel bezeichnete er die Künstlervereinigung als „geistige Bewegung“ und führte damit den von Dieter Schmidt beschrittenen Weg fort, den Künstlern selbst eine Stimme zu geben.

Als Höhepunkt der Expressionismus-Rezeption in der DDR kann die mit über 300 Werken bis dahin größte Ausstellung zu diesem Thema gelten, die 1986 anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Sammlungen der Nationalgalerie in den Staatlichen Museen zu Berlin, Nationalgalerie und Kupferstichkabinett gezeigt wurde: Expressionisten. Die Avantgarde in Deutschland 1905–1920. Dass die Ausstellung im Rahmen des 750-jährigen Jubiläums der Gründung der Stadt Berlin stattfand, somit also eine offizielle Veranstaltung der DDR war, zeigt den hohen Stellenwert, welcher der Kunst des Expressionismus nach der kompletten Verdammung 40 Jahre zuvor nunmehr beigemessen wurde. Die Ausstellung kann also durchaus als seine offizielle Rehabilitierung bezeichnet werden. Die Leihgaben kamen aus der DDR, aber auch aus internationalen Museen in ganz Europa, aus dem Westen wie aus dem Ostblock. Der Eiserne Vorhang war inzwischen zumindest für die Kunst und die Wirtschaftsbeziehungen durchlässig geworden. Die Ausstellung in der Nationalgalerie auf der Museumsinsel vereinte die verschiedenen Strömungen und Künstler des Expressionismus von der Brücke über den Blauen Reiter, den Rheinischen und Wiener Expressionisten bis hin zum Sturm und wichtigen singulären Figuren wie Beckmann, Dix oder Grosz, aber auch Dada und andere Bewegungen. Das Herzstück bildeten jedoch die beiden Künstlergruppen Brücke und Blauer Reiter. Sie wurden im Kontext ihrer Zeit, aber nicht primär unter politischen Gesichtspunkten dargestellt. Es stand also nicht der Blick auf die Kunst als Mittel zur Erziehung des sozialistischen Menschen im Zentrum, wie es noch bei den Ausstellungen bis in die 1970er Jahre hinein zumeist der Fall gewesen war, sondern eine primär kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem gewählten Gegenstand.

IV.          Expressionismus-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland: ‚Staatskunst‘ in Public-Private-Partnership?

1.     Expressionismus und Emigration

Auch die Kulturpolitik in den Westzonen bzw. der jungen Bundesrepublik wurde maßgeblich vom Einfluss der Siegermächte geprägt, allerdings baute man dort auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren auch auf kulturellem Gebiet. Dementsprechend weist Regine Prange darauf hin, dass die Situation angesichts des Status der Bundesrepublik als „kulturelle Provinz“ nicht allein aus deutscher Sicht verstanden werden kann, sondern immer auch die angelsächsische – und französische – Welt mitgedacht werden muss.[19] So bestimmten die Vertreibung von Künstlern, Wissenschaftlern und Kuratoren ins englische oder amerikanische Exil und die kulturpolitische Einflussnahme der USA unter anderem auch die Rezeption des Expressionismus im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Kunsthändler, Museumsleute und Wissenschaftler wie Otto Gerson, J.B. Neumann, Karl Nierendorf, Curt Valentin, Wilhelm R. Valentiner oder Peter H. Selz trugen durch ihre Arbeit nicht nur dazu bei, dass der Expressionismus in den USA auch außerhalb der Kreise emigrierter deutsch-jüdischer Sammler an Beliebtheit gewann. Sie prägten auch das Bild einer in der NS-Zeit verfemten Kunst und ihrer widerständigen Protagonisten, auf dessen Grundlage der Expressionismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit an Bedeutung für die Re-Education der Deutschen gewann. Dieses Signal wurde von den noch in Deutschland lebenden Wissenschaftlern, Galeristen und Museumsleuten dankend als Mittel der Legitimation und Bekenntnis zur Demokratie aufgenommen. Es sind diese Kontinuitäten, welche die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit und letzten Endes bis heute geprägt haben.

Zur personellen Kontinuität von bestimmten Akteuren aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, die sich nach 1945 in Deutschland neue Rollen suchten, kam mit der über die Bande des Exils gespielten Tradition der Modernerezeption der Weimarer Republik in Westdeutschland noch ein zweites – kunsthistorisches – Erbe hinzu. Auch wenn die Ziele und Intentionen nicht identisch waren, führte dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Kreise doch dazu, dass der Expressionismus und besonders Brücke und Blauer Reiter zu einer Erfolgsgeschichte in der Bundesrepublik wurden. Der Expressionismus wurde zum Aushängeschild und zu einem wichtigen Bestandteil der künstlerischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Anschlussfähigkeit an internationale Entwicklungen.

2.     Grote, Haftmann, die documenta 1955 und die Venedig-Biennalen

Martin Papenbrock weist in seiner Studie über die zur Zeit des Nationalsozialismus als verfemt gebrandmarkten Künstler eine frappierende Korrelation zwischen der Anzahl der als ‚entartet‘ beschlagnahmten Werke und den Ausstellungsbeteiligungen in der Bundesrepublik vom Kriegsende bis in die Mitte der 1990er Jahre nach. An der Spitze stehen dabei die Künstler aus dem Brücke-Umfeld, allen voran Emil Nolde, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner, und vereinzelt auch Vertreter des Blauen Reiters.[20] Festzuhalten bleibt, dass die Protagonisten beider Gruppen große Erfolge feierten und dass die ehemaligen Anti-Establishment-Künstler der Brücke in den Worten von Christian Weikop nach 1945 gar zu „elder statesmen“ der westdeutschen Kunstwelt avancierten.[21]

Die erste große Ausstellung zum Expressionismus nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland fand 1949 ausgerechnet an dem Ort statt, der von Adolf Hitler für die Großen Deutschen Kunstausstellungen ersonnen worden war, nämlich im Münchner Haus der Kunst, unter der Leitung von Ludwig Grote. Diese erste Nachkriegsretrospektive zum Blauen Reiter gilt heute als Auftakt der musealen Wahrnehmung der Künstlergruppe, die seitens der Alliierten aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit an die internationale Abstraktion auf mehr Interesse als die Brücke stieß.[22] Erst 1958 sollte im Museum Folkwang in Essen eine vergleichbar große Retrospektive zur Brücke in Deutschland gezeigt werden (Brücke 1905–1913: Eine Künstlergemeinschaft des Expressionismus).

Die wichtigste Großausstellung moderner und zeitgenössischer Kunst dieser Jahre fand 1955 in Kassel mit der ersten documenta statt. Werner Haftmann verortete die Schau im Katalogvorwort in der Tradition der großen Überblicksausstellungen der Weimarer Republik und brachte die Gegenwartskunst so in Verbindung mit der Vorkriegsmoderne und dem Expressionismus.[23] Mit Blick auf die Lage der Stadt Kassel an der Zonengrenze kann die documenta auch als ein spätes westliches Echo auf die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung 1946 in Dresden gelesen werden. Sie sollte im Sinne einer Art öffentlicher Wiedergutmachung auch die fatalen Urteile der auf die Bevölkerung nachhaltig wirkenden Ausstellung zur ‚entarteten Kunst‘ von 1937 revidieren, was ihr mit Blick auf die anhaltenden Zweifel an der Moderne nach Einschätzung von Walter Grasskamp nicht ausreichend gelang.[24]

Zentrale Punkte in Haftmanns Konzept für die documenta waren die Idee einer Kontinuität zwischen der Kunst der Vorkriegsmoderne und der Nachkriegszeit sowie die West-Integration des bundesdeutschen Kunstbetriebs im Sinne einer internationalen Moderne in vordergründiger Überwindung eines deutschen Sonderwegs. Ungeachtet des „Widerspruchs zwischen bekennendem Internationalismus und dem Beharren auf einer nationalen Kunst“ spielte der Expressionismus auf der ersten documenta eine zentrale Rolle als Präludium zur Nachkriegskunst, und zwar mehr als andere Strömungen der Klassischen Moderne wie Dada, Bauhaus oder Surrealismus.[25] Der Parcours im Fridericianum begann mit Fototafeln, auf denen archaische Werke, ethnografische Objekte aus Afrika und Mittelamerika, Antiken, frühromanische Reliefs und dergleichen mehr im Sinne einer Weltkunst gezeigt wurden. Diese Art der eklektizistischen Bildauswahl konnte als Verweis auf die Vorgehensweise im Almanach des Blauen Reiters verstanden werden, war aber letzten Endes vor allem der Versuch einer Enthistorisierung der Moderne, deren stilistische Merkmale so als transkulturell, ewig und allgegenwärtig charakterisiert werden sollten. Es folgten weitere Tafeln mit Fotoportraits einiger in der Ausstellung gezeigten Künstler (darunter auch Paul Klee und Franz Marc), die den zuvor verfemten Künstlern ihre Individualität, ihr Menschsein zurückgeben sollten. Die Brücke-Künstler gelangten nicht über Fotografien, sondern durch eine Reproduktion von Kirchners Gruppenbildnis aus dem Jahr 1926 ins visuelle Gedächtnis der Besucher.

Die ersten Kunstwerke auf dem Rundgang der documenta waren Plastiken von Wilhelm Lehmbruck und Werke von Paul Klee. In der ersten Etage, „wo die Pioniere und Heroen der Moderne vertreten“ waren,[26] wurde ein ganzer Saal allein den Künstlern der Brücke und des Blauen Reiters gewidmet – Marc, Macke, Kirchner, Jawlensky, Nolde, Schmidt-Rottluff, Mueller, Pechstein, Münter und Campendonk. Kandinsky wurde mit 17 Gemälden in einem eigenen Saal als Höhepunkt und herausragender Solitär inszeniert – ein Privileg, das nur wenigen anderen Künstlern wie Beckmann, Feininger, Picasso und Chagall eingeräumt wurde. Während die Qualität der gezeigten Werke auch von den verfügbaren Leihgebern abhing, waren die Expressionisten quantitativ gut vertreten: Unter den insgesamt 670 Exponaten befanden sich 28 Gemälde von Brücke-Künstlern und 45 von Künstlern des Blauen Reiters.[27]

An der zweiten documenta 1959 lässt sich ein bedeutender Paradigmenwechsel ablesen, der sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre vollzog. Die Ablösung von Paris als international führender Kunstmetropole durch New York ging einher mit der endgültigen Verdrängung der Vorkriegsmoderne und in Deutschland besonders des Expressionismus durch die internationale Nachkriegsabstraktion. War 1955 noch die Anbindung der deutschen Kunst an europäische und speziell französische Positionen wie die Fauves wichtig, mit denen der Expressionismus und vor allem die Brücke seit dem Kaiserreich in Verbindung gebracht worden waren, traten nun vor allem amerikanische Positionen in den Vordergrund, an die nur noch wenige Künstler anschlussfähig waren, hier eher der Blaue Reiter mit Kandinsky, Marc oder Klee als die Brücke. Der Expressionismus war nun in Westdeutschland endgültig Geschichte und wurde nicht mehr als Teil der Gegenwartskunst wahrgenommen.

Werner Haftmann wurde durch seine Publikation über die Malerei im 20. Jahrhundert und sein Engagement für die documenta zu einem der bedeutendsten Akteure der bundesrepublikanischen Nachkriegskunstszene. Er beriet auch die beiden folgenden Ausgaben der Kasseler Großausstellung bis 1964 und wurde 1967 zum Gründungsdirektor der Neuen Nationalgalerie in Berlin ernannt. Dass Haftmann, ein zentraler Gegenspieler zur antimodernen Haltung von Hans Sedlmayr, seit 1937 NSDAP-Mitglied war, wurde erst 2019 öffentlich diskutiert; 2021 wurde bekannt, dass er bereits seit 1933 Mitglieder der SA war.[28] Die Ignoranz weiter Teile der Fachöffentlichkeit gegenüber den Verstrickungen des überaus verdienten Kunsthistorikers Haftmanns in den Nationalsozialismus ist typisch für eine ganze Generation in Westdeutschland nach 1945, welche auch die Bedeutung Emil Noldes oder der Rolle des ‚nordischen‘ Expressionismus nicht in ihrer gesamten historischen Komplexität wahrhaben wollte. Nach dem Krieg half Haftmann dabei, diese Verstrickungen zu verschweigen und eine alternative Lesart des Expressionismus als Kunst des Widerstands zu befördern, vielleicht auch um von der eigenen Rolle abzulenken.

Das Bekenntnis zum Expressionismus vor allem der Brücke, aber auch des Blauen Reiters wurde in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg als Bekenntnis zur Freiheit und Demokratie verstanden. Zugleich diente es aber auch der eigenen Legimitation im Sinne einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass der Expressionismus vor allem der Brücke-Künstler in bewusster Anknüpfung an dessen Rolle in der Weimarer Republik auch der staatlichen Repräsentation der neuen Bundesrepublik dienen sollte. Ein wichtiges Indiz für die Bedeutung der beiden expressionistischen Künstlergruppen ist die Protektion und Förderung durch die Bundesregierung vermittels Schirmherrschaften, Ankäufen und Präsentationen im In- und Ausland.

Zu den internationalen Ausstellungen zählen an vorderster Stelle die Nachkriegsbiennalen von Venedig, die als deutliche Zeichen der Kontinuität der Expressionismus-Rezeption gelten können, da die Künstler der Brücke, aber auch des Blauen Reiters bereits zu Zeiten der Weimarer Republik regelmäßig in Venedig ausgestellt worden waren.[29] Auf der ersten Biennale der Nachkriegszeit 1948 wurden Arbeiten von Heckel, Pechstein und Schmidt-Rottluff gezeigt; 1950 fand die Expressionismus-Rezeption in Venedig ihren Höhepunkt, als neben Nolde und Schmidt-Rottluff vor allem der Blaue Reiter mit Jawlensky, Kandinsky, Klee, Macke, Marc und Münter vertreten war. Kommissar des deutschen Beitrags war in diesem Jahr Eberhard Hanfstaengl, der als Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen einen direkten Bezug zur Kunst des Blauen Reiters hatte. Auch 1952 galt der Expressionismus noch als das Aushängeschild der bundesdeutschen Kunst: Nach dem Blauen Reiter lag der Schwerpunkt nun auf der Brücke mit Gemälden und Grafiken von Heckel, Kirchner, Mueller, Nolde, Pechstein und Schmidt-Rottluff. Auf den folgenden Biennalen waren die Künstler des Expressionismus nur noch vereinzelt vertreten. Erkennbar ist auch hier der Versuch, die deutsche Kunst der Nachkriegsmoderne in ihrer Einbettung in die internationale Abstraktion zu zeigen und nur noch ergänzend die wichtigen Künstler der Vorkriegsmoderne zu präsentieren wie zum Beispiel Klee (1954), Nolde (1956), Kandinsky (1958; ergänzt durch eine Plastik von Kirchner und Grafik von Schmidt-Rottluff) und Schmidt-Rottluff (1960). In den 1960er Jahren ist die Zeit der expressionistischen Künstler auf der Biennale endgültig vergangen. Sie werden fortan als historische Akteure wahrgenommen und ihre Kunst musealisiert.[30] Bis in die späten 1980er Jahren hinein sollte die Bundesregierung aber durch Schirmherrschaften und Förderungen von Expressionismus-Ausstellungen im Ausland ihre demokratische Gesinnung unter Beweis stellen.

3.     Stiftungen, Schenkungen und Museumsgründungen

Mit der erneuten ‚Musealisierung‘ des Expressionismus in Westdeutschland begann eine Phase großen und anhaltenden Erfolgs, der sich auch in der Gründung von Stiftungen und Museen sowie in der Integration von expressionistischen Künstlern in die kulturelle Repräsentation des Staates ausdrückte. Neben den bedeutenden öffentlichen Sammlungen spielten in der Nachkriegszeit vor allem Stiftungen und Schenkungen von Privatsammlern, Galeristen und einzelnen Künstlern eine herausragende Rolle für die Rezeption und Kanonisierung von Brücke und Blauem Reiter in Westdeutschland. Kaum einer anderen Kunstrichtung und Epoche sind in der Bundesrepublik Deutschland heute wohl derart viele Künstlermuseen und Stiftungen gewidmet.

München, die Stadt des Blauen Reiters, zugleich aber auch die ehemalige ‚Hauptstadt der Bewegung‘, Schreckensort der NSDAP, Schauplatz der Femeausstellung und der nationalsozialistischen Großausstellungen, wurde in der Nachkriegszeit unter anderem durch die genannte Retrospektive zum Blauen Reiter 1949 zu einem der Zentren der durchaus kontrovers diskutierten Rehabilitation der Moderne in Westdeutschland. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte der Erwerb eines umfangreichen Konvoluts aus Werken von Wassily Kandinsky und Gabriele Münter durch das Lenbachhaus 1957 (in Teilen als Schenkung), den die Künstlerin über Jahrzehnte in ihrem Haus beherbergt hatte.[31] Dank dieser Schenkung, die in erster Linie der persönlichen Verbindung des damaligen Direktors des Lenbachhauses, Hans Konrad Roethel, mit dem Lebensgefährten von Gabriele Münter, dem Kunsthistoriker Johannes Eichner, zu verdanken ist, sowie durch Roethels wissenschaftlich-publizistisches Engagement und seine rege Ausstellungstätigkeit zum Blauen Reiter und besonders zum Werk von Kandinsky, zählt das Lenbachhaus heute neben dem Pariser Centre Pompidou und dem New Yorker Guggenheim Museum weltweit zu den wichtigsten institutionellen Sammlungen der Künstlergruppe.

Auch die ungleich größeren Bayerischen Staatsgemäldesammlungen konnten ihren Bestand zu Klassischer Moderne und Expressionismus in den 1960er Jahren durch Schenkungen maßgeblich erweitern. Das Ehepaar Sophie und Emanuel Fohn hatte seine Sammlung deutsch-römischer Künstler 1939 beim Reichspropagandaministerium und bei Möller, Buchholz, Böhmer und Gurlitt gegen Arbeiten verfemter Künstler eingetauscht. Sie wurden dabei von einem ganzen Netzwerk aus Museumsleuten unterstützt, um diese wichtigen Werke der Moderne vor der Vernichtung oder Veräußerung ins Ausland zu retten. Die Gemälde, Plastiken und Zeichnungen, insgesamt ein beträchtliches Konvolut von mindestens 623 Werken, darunter auch wichtige Arbeiten aller Künstler der Brücke und des Blauen Reiters, ließen sie zusammen mit ihrer älteren Sammlung zur Klassischen Moderne in Depots in der Schweiz und in Österreich verbringen, um sie, gewissermaßen treuhänderisch, vor dem Zugriff der Nazis zu bewahren und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Mahnung gegen totalitäre Kunstpolitik der Öffentlichkeit zurückzugeben. Allerdings spielten bei ihrem Vorgehen auch ökonomische Aspekte eine Rolle.[32] 1964 schenkte das Ehepaar Teile seiner Sammlung den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Nach dem Tod von Sophie Fohn 1990 kamen weitere Schenkungen hinzu.

Der durchschlagende, auch posthume Erfolg der Künstler der Brücke und des Blauen Reiters lässt sich an den vielen Stiftungen, Sammlungen und Museen ablesen, die seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik gegründet wurden. Bis auf Otto Mueller, der schon 1930 verstarb, sind alle einschlägigen Künstler mit öffentlichen oder privaten, zum Teil allein ihrem Werk gewidmeten Museen verbunden.[33] Eine der vielleicht bekanntesten Museumsgründungen im Bereich des Expressionismus ist das Brücke-Museum in Berlin. Dessen Einrichtung war nicht nur ein Bekenntnis zur Kunst, sondern auch ein politisches Statement, denn die Förderung des historischen Expressionismus wurde, auch aufgrund der weitgehenden Ablehnung in der DDR, zu einem Instrument der Blockbildung und Konfrontation mit der sozialistischen Staatenwelt. Das Bekenntnis zum Expressionismus war zugleich ein Bekenntnis zur Freiheit. Das kleine Museums in Dahlem wurde so zu einem Bekenntnisort des Westens gegenüber der vermeintlichen Bedrohung aus dem Osten – weit über die Stadtgrenzen hinaus.

Angesichts der besonderen Bedeutung Berlins als wichtigstem Wirkungsort der Gruppe neben Dresden wurde das Angebot von Karl Schmidt-Rottluff 1964 anlässlich seines 80. Geburtstags seitens der Stadt bereitwillig angenommen, im Gegenzug zu einer umfassenden Schenkung ein eigens der Brücke gewidmetes Museum zu errichten. Erich Heckel und seine Frau Siddi unterstützen die Gründung maßgeblich durch eine Schenkung (1966) und eine ergänzende Stiftung (1970). 1967 kam es schließlich zur Eröffnung des Museums unter seinem ersten Direktor Leopold Reidemeister, dem vormaligen Generaldirektor der Staatlichen Museen in West-Berlin. Dass der ehemalige Reichskunstwart der Weimarer Republik Edwin Redslob beim Festakt anwesend war, steht symbolisch für die gedankliche Verbindung von Weimarer Republik und Bundesrepublik. Aus den Mitteln der 1976 gegründeten Karl-und-Emy-Schmidt-Rottluff-Stiftung konnten später nicht nur wichtige Konvolute der Brücke-Künstler an einem Ort bewahrt, erforscht und ausgestellt werden. Die besondere Konstruktion der Stiftung ermöglichte auch den Verkauf von Werken, aus deren Erlösen wiederum andere bedeutende Arbeiten erworben werden konnten. Mit der Situation und Rolle der Künstler im Nationalsozialismus wollte man sich zu diesem Zeitpunkt nicht auseinandersetzen, hätte dies doch auch die Befragung der eigenen Rolle impliziert. Erst 2019 wurde mit der Ausstellung Flucht in die Bilder? ein differenzierterer Blick auf die Brücke-Künstler und ihre Unterstützer im Nationalsozialismus geworfen.

Der besondere Stellenwert der expressionistischen Kunst und die wichtige Vermittlungsfunktion Bedeutung des Brücke-Museums für die Konstruktion eines Mythos Berlins als moderne Großstadt und Symbol der Freiheit im Kalten Krieg lässt sich nicht zuletzt an der Rezeption von Heckels Holzschnitten und Malereien durch Iggy Pop und David Bowie ablesen, die während ihrer Berliner Zeit das Haus immer wieder besuchten. Die Cover ihrer in Berlin aufgenommenen Platten, The Idiot und Heroes, sind als Referenz an Heckels Gemälde des Roquairol von 1917 im Brücke-Museum nach einer Romanfigur von Jean Paul zu verstehen – dann auch The Lodger mit Verweis auf Egon Schiele – und greifen in ihrer Gestaltung die expressionistische Ästhetik ebenso auf wie die von Jean Paul evozierte Zerrissenheit der künstlerischen Existenz und die damit in Verbindung gebrachte radikale Abkehr von bürgerlichen Normen.

4.     Expressionismus im Staatsdienst?

Leopold Reidemeister wurde 1975 durch den eingangs erwähnten Bundeskanzler Helmut Schmidt an die Spitze einer Kunstkommission berufen, um das neu erbaute Kanzleramt mit Kunstwerken auszustatten. Reidemeister schlug Arbeiten von Heckel, Mueller, Kirchner, Nolde und Schmidt-Rottlufff, auch Beckmann und Macke vor, die in den Arbeits- und Repräsentationsräumen aufgehängt wurden. Darunter befanden sich viele Dauerleihgaben, da der Bund erst seit 1971 eine eigene Kunstsammlung führte. Zudem sollte durch die Leihgaben die gesamtgesellschaftliche Verbindung betont werden, da die Regierungsspitze sich von Bürgern und Kunstinstitutionen wie den Staatlichen Museen zu Berlin, dem Brücke-Museum oder der Nolde-Stiftung Kunstwerke und damit symbolisches und kulturelles Kapitel auslieh.[34] Besonders prominent war Kirchners 4 Meter breites Bild Sonntag der Bergbauern (1923–1924) an zentraler Stelle im Kabinettssaal des neuen Kanzleramts vertreten – auch nach dem Umzug nach Berlin behielt das Bild seinen prominenten Platz im Kabinettssaal mit derselben Intention einer Rehabilitierung.[35] Die politische Indienstnahme des Expressionismus war so offensichtlich, dass in der Presse kritisch hinterfragt wurde, ob der Bundeskanzler das Recht habe, „den deutschen Expressionismus zum Mittel staatlicher Selbstdarstellung zu machen“.[36] Höhepunkt der Verbindung von Brücke-Kunst, privaten Interessen und staatlicher Repräsentation war 1982 die Eröffnung einer Nolde-Ausstellung im Kanzleramt mit über 100 Werken von Schmidts Lieblingskünstler.

Diese Tradition wurde nach Helmut Schmidts Kanzlerschaft in der alten Bundesrepublik durchaus fortgesetzt. Helmut Kohl bekannte sich, wenn auch vielleicht mit etwas weniger Engagement, ebenfalls zum Expressionismus. Berühmt wurde Richard von Weizsäckers Besuch im Schweizer Kurort Davos, wo der Bundespräsident am Grab Kirchners einen Kranz niederlegte und ihn so erneut von politischer Seite würdigte. Mit dem Umzug nach Berlin und der gewandelten architektonischen und vor allem politischen Situation änderte sich auch die Expressionismus-Rezeption des inzwischen wiedervereinigten Deutschland. Zwar blieben die Werke von Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde und anderen Vertretern von Brücke und Blauem Reiter Teil der Ausstattung des Kanzleramts, doch Gerhard Schröder setzte deutlich andere Akzente als seine Vorgänger und interessierte sich für eine jüngere Generation von expressiv arbeitenden Künstlern wie etwa Markus Lüpertz.

Mit dem Ende der DDR erfuhr die Moderne- und Expressionismus-Rezeption auch in der ostdeutschen Museumslandschaft einen Aufschwung, der sich bereits 1986 mit der Ausstellung in der Ost-Berliner Nationalgalerie angedeutet hatte. Das gilt unter anderem für die Hallenser Moritzburg oder die Kunstsammlungen Chemnitz, in denen die einschlägigen Traditionen wieder in den Fokus gerückt wurden. Der Modernebezug bot einigen Städten und Museen in den neuen Bundesländern eine Anschlussfähigkeit an die Zeit vor dem Kalten Krieg, welche die historischen Brüche und unterschiedlichen Entwicklungen der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu überbrücken half. So erhalten beispielsweise nicht nur Max Pechstein in Zwickau und Karl Schmidt-Rottluff in Chemnitz nach 1990 große Aufmerksamkeit, sondern die Moderne wurde insgesamt zu einer zentralen Referenz, wenn sich etwa die Stadt Chemnitz 2009 den Beinamen ‚Stadt der Moderne‘ gab und damit auf eine Vorkriegstradition rekurrierte.

Vor allem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Künstlern von Brücke und Blauem Reiter hat sich seit 1990 in beiden Teilen des Landes grundlegend erweitert. Dies liegt nicht zuletzt an der breiteren wechselseitigen Zugänglichkeit von Archiven und Sammlungen nach dem Fall der Mauer. Angeregt durch die Etablierung einer diskurs-kritischen Kunstgeschichte und einen Generationswechsel an den Universitäten rückte zudem die kritische Auseinandersetzung mit den Künstlern und den sie fördernden Kunsthistorikern, Sammlern und Museumsleuten sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Nachkriegszeit in den Fokus der Untersuchungen. Auch die Gender und Postcolonial Studies haben jenseits von Primitivismus- und Exotismus-Diskussionen dazu beigetragen, ein differenzierteres Bild der Künstler und Werke im Kontext ihrer Zeit zu erlangen, das durch Publikationen und Ausstellungen einem größeren Publikum vermittelt wird.[37]

Von diesem neuerlichen Paradigmenwechsel zeugt auch eine aufsehenerregende Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die bekennende Nolde-Verehrerin wollte 2019 im Nachgang der Ausstellung zu Emil Noldes Vergangenheit im Nationalsozialismus (Emil Nolde. Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus, Staatliche Museen zu Berlin, Hamburger Bahnhof,) die Leihgaben des Künstlers aus der Nationalgalerie nicht wieder in ihrem Arbeitszimmer aufhängen und verzichtete im Zuge dessen auch auf Gemälde von Karl Schmidt-Rottluff. Auch wenn dieser Schritt durchaus auch kritisch gesehen werden kann, ist doch festzustellen, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verbindung expressionistischer Künstler mit dem Nationalsozialismus zumindest in diesem Fall zu einer demonstrativen Anerkennung der ambivalenten Rolle von Brücke und Blauem Reiter in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts führte.

 

Literatur

Ausst.-Kat. Kassel 1955
documenta. kunst des xx. jahrhunderts. internationale ausstellung im museum friedericianum in kassel, Ausst.-Kat. Kassel 15.7.–18.9.1955, München: Prestel 1955.

Bambi 2017
Andrea Bambi, „Die Sammlung von Sofie und Emanuel Fohn in der Pinakothek der Moderne. Zwischen Profit und Rettung liegt ein schmaler Grat“, in Jahresbericht der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen 2017, 168–181.

Becker/Lagler 1995
Christoph Becker, Annette Lagler, Biennale Venedig. Der deutsche Beitrag 1895–1995, hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen 1994, Ostfildern: Cantz 1995.

Best.-Kat. Frankfurt am Main 2011
Kunst der Moderne 1800–1945, im Städel Museum, Bestandskatalog Städel Museum, hrsg. von Felix Krämer, Max Hollein, Ostfildern: Hatje Cantz 2011.

Bude/Wieland 2021
Heinz Bude, Karin Wieland, „Kompromisslos und gewaltbereit. Ein neuer Fund zeigt: Werner Haftmann, einst Mitgründer der Weltkunstschau documenta in Kassel, war nicht nur Mitglied der NSDAP. Er war auch SA-Mann“, in DIE ZEIT 11/2021, online unter https://www.zeit.de/2021/11/werner-haftmann-documenta-nsdap-sa-kunsthistorik/, Stand: 10.3.2021.

Friedrich/Prinzing 2013
„So fing man einfach an, ohne viele Worte“. Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Tagungsakten Museum Ludwig, Köln 9.–10.11.2012, hrsg. von Julia Friedrich, Andreas Prinzing, Berlin: Akademie-Verlag 2013.

Fuhrmeister 2013
Christian Fuhrmeister, „Statt eines Nachworts: zwei Thesen zu deutschen Museen nach 1945“, in Friedrich/Prinzing 2013, 234–239.

Fulda/Ring/Soika 2019
Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus, hrsg. von Bernhard Fulda, Christian Ring, Aya Soika, München: Prestel 2019.

Fulda 2020
Bernhard Fulda, „Das Schweigen der Quellen. Leerstellen bei Emil Nolde“, in Hoffmann/Scholz 2019/2020, 256–267.

Goeschen 2001
Ulrike Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Berlin: Duncker & Humblot 2001.

Grasskamp 1989
Walter Grasskamp, „‚Entartete Kunst‘ und documenta 1. Verfemung und Entschärfung der Moderne“, in ders., Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München: Beck 1989, 76–119.

Grasskamp 1991
Walter Grasskamp, „documenta – kunst des xx. jahrhunderts – internationale ausstellung im museum friedericianum in kassel. 15. Juli bis 18. September 1955“ in Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts, hrsg. von Bernd Klüser, Katharina Hegewisch, Frankfurt am Main, Leipzig: Insel-Verlag 1991, 116–125.

Haftmann 1955
Werner Haftmann, „Einleitung“, in Ausst.-Kat. Kassel 1955, 15–25.

Hoffmann/Scholz 2019/2020
Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis, Kolloquiumsakten Berlin 16.–18.5.2019, hrsg. von Meike Hoffmann, Dieter Scholz, Berlin: Verbrecher Verlag 2020.

Krause 2010
Expressionism and Gender / Expressionismus und Geschlecht, Konferenzschrift London 19.–20.3.2009, hrsg. von Frank Krause, Göttingen: V&R unipress 2010.

Langfeld 2020
Gregor Langfeld, „Der Blick von ‚außen‘. Konstruktionen der ‚deutschen‘ Moderne nach 1945“, in Hoffmann/Scholz 2019/2020, 242–255.

Lloyd 1991
Jill Lloyd, German Expressionism. Primitivism and Modernity, New Haven, Conn./London: Yale University Press 1991.

Lüttichau 1996
Mario-Andreas von Lüttichau, „Zur Rezeptionsgeschichte des ‚Expressionismus‘ in Deutschland“, in Von der Brücke zum Blauen Reiter. Farbe, Form und Ausdruck in der deutschen Kunst von 1905 bis 1914, Ausst.-Kat. Dortmund, Museum am Ostwall 15.9.–15.12.1996, hrsg. von Tayfun Belgin, Heidelberg: Edition Braus 1996, 104–113.

Niederhofer 1996
Ulrike Niederhofer, Die Auseinandersetzung mit dem Expressionismus in der Bildenden Kunst im Wandel der politischen Realität der SBZ und der DDR 1945–1989, Frankfurt am Main u.a.: Lang 1996 (zugl. Diss., Univ. Münster 1995).

Papenbrock 1996
Martin Papenbrock (Hrsg.), ‚Entartete Kunst‘. Exilkunst, Widerstandskunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie, Weimar: VDG 1996 (= Schriften der Guernica-Gesellschaft. Kunst, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Jutta Held, Bd. 3).

Papenbrock/Saure 2000
Martin Papenbrock, Gabriele Saure (Hrsg.), Kunst des frühen 20. Jahrhunderts in deutschen Ausstellungen. Teil 2: Antifaschistische Künstler/Innen in Ausstellungen der SBZ und der DDR. Eine kommentierte Bibliographie versehen mit einem Index verfolgter Künstlerinnen und Künstler, Weimar: VDG 2000 (= Schriften der Guernica-Gesellschaft. Kunst, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Jutta Held, Bd. 9).

Prange 2011
Regine Prange, „Zur Begriffsbestimmung, Popularität und Kritik des Expressionismus in der kunsthistorischen Kommentarliteratur“, in Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 58 (2011), 2, 171–180.

Saehrendt 2005
Christian Saehrendt, „Die Brücke“ zwischen Staatskunst und Verfemung. Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und im Kalten Krieg, Stuttgart: Steiner 2005 (Pallas Athene, Bd. 13).

Schmidt 2003
Werner Schmidt, „Ringen um den Expressionismus. Die Rezeption der Kunst der „Brücke“ in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR“, in Festschrift für Eberhard W. Kornfeld zum 80. Geburtstag, hrsg. von Christine E. Stauffer, Bern: Kornfeld 2003, 287–306.

Schröter 2006
Kathleen Schröter, „Kunst zwischen den Systemen. Die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung 1946 in Dresden“, in Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, hrsg. von Nikola Doll u.a., Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006, 209–238.

Schuster 1999
Peter-Klaus Schuster, „Die doppelte ‚Rettung‘ der modernen Kunst durch die Nationalsozialisten“, in: Überbrückt. Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunsthistoriker und Künstler 1925–1937, hrsg. von Eugen Blume, Dieter Scholz, Köln: König 1999, 40–47.

Steinkamp 2008
Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption „entarteter“ Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR, Berlin: Akademie Verlag 2008 (zugl. Diss., Univ. Bonn 2007).

Stonard 2011
John-Paul Stonard, „Old Masters of Modern Art: Brücke after 1945“, in Weikop 2011, 211–220.

Weikop 2011
Christian Weikop (Hrsg.), New Perspectives on Brücke Expressionism. Bridging History, Farnham, Surrey: Ashgate 2011.

Winkler 1988
Kurt Winkler, „Allgemeine Deutsche Kunstausstellung, Dresden 1946“, in Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau, 25.9.1988–8.1.1989, Idee und Konzeption von Eberhard Roters, Bernhard Schulz, Berlin: Nicolai 1988, 353–360.

Anmerkungen

[1] Ich danke Diana Kopka und Philipp Freytag für die große Unterstützung beim Verfassen dieses Textes.

[2] Helmut Schmidt im Interview mit Martin Hegel, Felix Krämer, in Best.-Kat. Frankfurt am Main 2011, 42–45, hier 42. Bezeichnenderweise ließ sich Schmidt für ein offizielles Portrait nach seiner Kanzlerschaft 1986 von Bernhard Heisig portraitieren, der sich künstlerisch als Erbe des Expressionismus verstand.

[3] Langfeld 2020, 253. Martin Papenbrock hat das selektive Moment dieser Moderne-Rezeption bereits 1996 herausgearbeitet (Papenbrock 1996).

[4] Lüttichau 1996, 111; s.a. Schuster 1999.

[5] Fuhrmeister 2013, 235.

[6] Vgl. u.a. Winkler 1988, Papenbrock/Saure 2000, 28–30, Schröter 2006.

[7] Laut Ausstellungskatalog von 1946 waren vertreten: Heckel mit drei Gemälden (davon zwei in Tempera ausgeführt), Kirchner mit vier (Leihgaben von Ferdinand Möller), Mueller mit zwei Gemälden und einer Lithographie, Pechstein mit drei Gemälden und Schmidt-Rottluff mit zweien (darunter eine Leihgabe von Möller).

[8] Strauss zitiert nach Schröter 2006, 214. Strauss verfasste 1946 auch die „Richtlinien der Kunstpolitik“ der SED mit und agitierte 1949 im sogenannten Hallenser Museumsstreit vehement gegen die Wiedererwerbungspolitik moderner und expressionistischer Kunst durch den damaligen Direktor Gerhard Händler.

[9] Christian Saehrendt zitiert beispielhaft aus den Angriffen gegen ‚Formalismus‘ und ‚Kosmopolitismus‘, die im Kalten Krieg synonym mit einer dekadenten Moderne als „kulturelle Waffe“ des „amerikanischen Imperialismus“ gesetzt wurden, der, wie Wilhelm Girnus im Neuen Deutschland 1951 schreibt, „volksfremde, dekadente, formalistische ‚Kunstrichtungen‘ [ermuntere], um auf diese Weise lähmend und zersetzend auf die Psyche der Künstler und des Volkes zu wirken“ (zit. n. Saehrendt 2005, 96).

[10] Vgl. Friedrich/Prinzing 2013.

[11] Vgl. Papenbrock 1996, 14.

[12] Vgl. zuletzt u.a. Fulda/Ring/Soika 2019, Fulda 2020.

[13] Werner Schmidt (Schmidt 2003) unterscheidet folgende Phasen: „Befreite Kunst“ (1945–1948), „erneute Verfemung“ (1949–1953), „Neue Vorstöße und Kämpfe“ (1954–1964) sowie „Durchsetzung“ (1965–1988).

[14] Vgl. zur Rezeption von Expressionismus und Moderne in der DDR u.a. Niederhofer 1996, Goeschen 2001, Schmidt 2003, Saehrendt 2005, 94–102, Steinkamp 2008.

[15] Vgl. u.a. Goeschen 2001, 36–49, und Steinkamp 2008, 175–252.

[16] Zit. n. Goeschen 2001, 93; zur langsamen „Integration des Expressionismus“, vgl. ebd., 93–116.

[17] Horst Jähner, „Expressionismus jenseits vom Bürgerschreck. Bemerkungen zur Geschichte der Dresdener ‚Brücke‘“, in Bildende Kunst 5/1956, 244–248; hier zit. n. Saehrendt 2005, 98; vgl. auch Goeschen 2001, 109.

[18] Kurt Liebmann, „Der Expressionismus und seine Stellung zur Wirklichkeit“, in Bildenden Kunst 8/1958, 531ff.; hier zit. n. Saehrendt 2005, 98.

[19] Prange 2011, 175.

[20] Papenbrock 1996, 57. So führt ausgerechnet Emil Nolde die Liste der im Nationalsozialismus beschlagnahmten Werke mit 1052 an, gefolgt von Erich Heckel (729), Ernst Ludwig Kirchner (639) und Karl Schmidt-Rottluff (608) sowie Otto Mueller (357), Max Pechstein (326), Franz Marc (130) und Paul Klee (102). Das Ranking der Ausstellungsbeteiligungen nach dem Zweiten Weltkrieg liest sich ganz ähnlich, wobei die Zahlen beider Ranglisten wohl zu einem beträchtlichen Teil den Erfolg der jeweiligen Künstler in der Weimarer Republik wiederspiegeln. Hier führt Heckel mit 371 Beteiligungen vor Schmidt-Rottluff (360), Kirchner (333), Nolde (320) und Pechstein (309). Dahinter finden sich Mueller (257), Macke (216), Klee (202), Marc (176) und Kandinsky (157) (vgl. ebd., 55–56). Die zugrunde gelegte Anzahl der beschlagnahmten Werke basiert übrigens auf Paul Ortwin Raves Studie Kunstdiktatur im Dritten Reich aus dem Jahr 1949, hat also eher approximativen Charakter.

[21] Weikop 2011, 203.

[22] Vgl. Stonard 2011, 213–215.

[23] Haftmann 1955, 15.

[24] Vgl. Grasskamp 1989. Die documenta ist in all ihrer Ambivalenz programmatisch für die Kunstpolitik der frühen Bundesrepublik zu verstehen. Organisiert wurde sie durch den an der Kasseler Kunstakademie lehrenden Arnold Bode. Das kunsthistorische Konzept stammt allerdings in wesentlichen Teilen von Werner Haftmann, der ein Jahr zuvor sein Überblickswerk zur Malerei im 20. Jahrhundert publiziert hatte.

[25] Prange 2011, 176.

[26] Grasskamp 1991, 119.

[27] Kirchner war unter den Brücke-Künstlern mit den meisten Gemälden vertreten (7). Dahinter folgten Nolde (6), Schmidt-Rottluff und Heckel (je 5), Mueller (4), Pechstein (1; Kandinsky führte die Reihe der Künstler des Blauen Reiters an (17 Gemälde, ein Aquarell) vor Jawlensky (11), Klee (22 Arbeiten, darunter acht Gemälde), Marc (6 Gemälde), Macke (28 Arbeiten, davon zwei Gemälde) und Münter 2 (vgl. Ausst.-Kat. Kassel 1955).

[28] Vgl. die Vorträge von Bernhard Fulda und Julia Friedrich auf der Tagung documenta. Geschichte / Kunst / Politik im Deutschen Historischen Museum, Berlin 2019, https://documentaforum.de/symposium-im-deutschen-historischen-museum-documenta-geschichte-kunst-politik/, Stand: 1.3.2021. Zur Mitgliedschaft Haftmanns in der SA vgl. Bude/Wieland 2021.

[29] 1922 wurden in Venedig Gemälde von Heckel, Kirchner, Pechstein und Schmidt-Rottluff gezeigt sowie Grafiken von Mueller und Marc, 1926 Grafiken von Heckel und Pechstein. 1928 wurden neben Grafiken Gemälde von Heckel, Kirchner, Macke, Mueller, Pechstein und Schmidt-Rottluff gezeigt, 1930 Gemälde von Heckel und Schmidt-Rottluff sowie zum ersten Mal auch solche von Kandinsky und Klee.

[30] Niels von Holst bezeugt in einer Rezension in der FAZ 1952 einen treffenden Dialog: „[…] nun betritt eine Gruppe italienischer Maler den Deutschen Pavillon […]. Die Begeisterung über ‚Die Brücke‘ ist groß: ‚Piu tedesco che il Cavaliere Azzuro‘, so lautete das Urteil. […] Da kommen Schweizer Freunde: ‚Wie lange wollt ihr euren Expressionismus noch wiederkäuen? Gut, sehr gut – aber wir wollen Neues sehen […].“ (Niels von Holst, „Der große Tauschplatz – die 26. Biennale der bildenden Kunst in Venedig“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung 140/21.6.1952, hier zit. n. Becker/Lagler 1995, 159.)

[31] Die Schenkung umfasste 90 Gemälde, 24 Hinterglasbilder, 330 Aquarelle, Temperablätter und Zeichnungen, 29 Skizzenbücher und ca. 300 Druckgrafiken von Wassily Kandinsky, vergleichbar mit den umfangreichen Schenkungen von Nina Kandinsky an das Centre Pompidou (1976 unter Pontus Hultén) und die Société Kandinsky (1980) in Paris.

[32] Vgl. Bambi 2017.

[33] Man denke nur an das Franz-Marc-Museum (Kochel am See), das Schloßmuseum Murnau, das Kirchner-Museum (Davos), die Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, das Zentrum Paul Klee in Bern, die Fondazione Werefkin in Ascona oder an das Museum Wiesbaden mit der Schenkung von Jawlensky, das Museum Penzberg mit Campendonk und die Kunstsammlungen Zwickau mit Pechstein. Dazu gesellen sich noch wichtige, z.T. halböffentliche Privatmuseen mit einem zumindest anfänglichen Schwerpunkt auf dem Expressionismus wie etwa die Kunsthalle Emden mit der Sammlung von Henri Nannen oder das Buchheim Museum der Phantasie in Bernried am Starnberger See, das dem Werk seines Gründers inzwischen die Sammlung von Hermann Gerlinger an die Seite gestellt hat.

[34] Vgl. u.a. Saehrendt 2005, 91.

[35] Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Die Bundeskanzlerin und das Bundeskanzleramt, Berlin 2014, 33.

[36] FAZ vom 18.5.1976, hier zit. n. Saehrendt 2005, 92.

[37] Vgl. etwa Lloyd 1991, Krause 2010. Das Stedelijk Museum Amsterdam zum Beispiel wird in Kooperation mit dem Statens Museum for Kunst in Kopenhagen seine jüngsten Forschungen unter dem Titel Kirchner und Nolde: Expressionismus. Kolonialismus 2021 in einer Ausstellung samt Publikation präsentieren.

Aufsatz im Katalog Brücke und Blauer Reiter, Ausst.-Kat. Bernried, Buchheim-Museum der Phantasie, Kunstsammlungen Chemnitz und Von der Heydt-Museum Wuppertal 2021-2022

Kat-Bruecke_Blauer_Reiter-2021-Aufsatz_Bussmann

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