Bastian Muhr, Schwarzbunt
Während seines Arbeitsaufenthaltes am ISCP in New York 2015 fing Bastian Muhr an, Dinge, die er tagsüber in der Stadt wahrgenommen hatte, auf ihre Grundformen zu reduzieren und in Umrissen auf Papier zu zeichnen. Ohne narrative Haltung versammelte er geometrische oder organische Formen, die er in immer neuen Variationen mit Graphit auf das weiße Papier übertrug, jeden Tag mindestens ein, fast einem Tagebuch gleich. Erinnerungen an die konzeptionellen Zeichenserien Hanne Darbovens werden wach, freilich ohne die Strenge ihres zeitlich-mathematischen Ansatzes. In der Art von Piktogrammen entstand so ein Alphabet von Minimalformen als Versuch, seine Wahrnehmung in ein serielles System reduzierter Zeichen zu übersetzen.
Nach seiner Rückkehr nach Leipzig führte Bastian Muhr diese Zeichnungen von Minimalsymbolen weiter, bis heute. Manches blieb erhalten, da es seinem Anspruch auf eine in sich funktionierendes Verhältnis von Linie und Fläche, von Form und Inhalt genügt. Manches wurde auch wieder verworfen, wenn sich die Zeichnung zu nah an der Realität bewegten und illustrativ wurden oder wenn sie so weit abstrahiert waren, dass sie für ihn keine Bedeutung mehr aufwiesen. Diese verworfenen Blätter, seines Erachtens Zeugnis des Imperfekten, dienten als Grundlage einer neuen Werkgruppe von Zeichnungen auf Papier, die nun in der Galerie Jochen Hempel zu sehen ist. Auf den zuvor verworfenen Blättern schraffiert Bastian Muhr minutiös die leer gebliebenen Freiräume zwischen den Linien mit seinem Graphitstift der Härte 6B, ebenfalls jeden Tag mindestens ein Blatt. Mit Akribie und Systematik lotet er so das Verhältnis von Linie und Fläche, von weißem Papier und den Nuancen des Grau weiter aus. Die Norm des immer gleichen Papierformats A4 ergibt die Konstante dieser Blätter mit großen Formvariationen, die durch die regelmäßigen, mit der Hand erstellten Schraffuren eine große Lebendigkeit erhalten. Diese Reihe lebt von der Wiederholung, von der immer wiederkehrenden Geste des Striches, der sich zu Flächen verdichtet und die Grundform der zuvor verworfenen Linie kamoufliert.
Der imperfekte Strich, der die Gerade sucht, aber nie vollständig erreicht, fordert Norm und System heraus. Der Künstler reflektiert seine Umwelt, die auf Normierungen und Standardisierung aufbaut, und entwickelt einen neuen Kodex, nur um diese Systematisierung sofort wieder zu unterlaufen. Im Spannungsverhältnis von Norm und Abweichung sind Bastian Muhrs Zeichenkomplexe Chimären der Systemtheorie. Sie ahmen die Perfektion des informationstechnologischen Weltzugangs nach, der uns mit der Etablierung des Internets als maßgebliches Kommunikationsmedium mehr als alles andere prägt. Die Schönheit des Algorithmus, die Muhrs eigenes Empfinden und Denken mit den ersten Computerspielen in den 1980er Jahre beeinflusst hat, fordert er mit der Ästhetik des freihändig gezeichneten und damit nicht perfekten Strichs heraus. Eine fast trotzige, nostalgische Geste, die sich aber nicht impulsiven Zuckungen oder einer écriture automatique hingibt, sondern aus der eigenen Genese des Scheiterns heraus intuitiv, aber kontrolliert neue Wege und eigene Welten auf DINA4 eröffnen will. Bastian Muhr stellt sich dabei der in Leipzig gelehrten Tradition des handwerklichen Könnens. Er setzt mit dem Festhalten an der händisch-künstlerischen Arbeit einen deutlichen Kontrapunkt zu medienreflexiven Ansätzen in der Malerei etwa von Wade Guyton, der jede individuelle Handschrift durch die Auswahl der Motive aus dem Internet oder aus Schreibprogrammen und ihre Übertragung auf die Leinwand durch Tintenstrahldrucker verneint.
Bastian Muhrs Ansatz der kontrollierten Intuition und des gebrochenen Standards finden sich in farbigen Variationen auch in seiner Malerei wieder, die ihre gedankliche Ausgangslage ebenfalls in den in New York begonnenen Zeichnungen mit reduzierter Formensprache finden. Die großformatige Malerei ist zeichnerisch geführt, die Oberfläche vom Duktus des Pinsels geprägt, Form- und Farbgebung abstrahierend gehalten, ohne sich der reinen Gegenstandslosigkeit und konkreten Kunst zu öffnen. Als farbige Piktogramme seiner Weltwahrnehmung bewegt sich seine Malerei im Spannungsfeld von Symbol und Abstraktion. Keine zu detaillierten Farbnuancen, um sich durch die Vermeidung von Lokalkolorit der Erzeugung von Raum und Illusion zu verweigern. Er erzeugt durch Farbgebung und Formnähe aber Assoziationsketten, die Begriffe von Landschaft, Menschen und Dingen evozieren, die aber beim nächsten Blick jedoch wieder verworfen werden. Beim Oszilllieren zwischen Sehen und Erkenntnis ist auch hier das Scheitern eingeplant – oder wie die Sterne 2002 sangen: „Wahr ist, was wahr ist // dass das, was war, nicht mehr da ist.“
Weitere Informationen unter http://jochenhempel.com/bastian-muhr/.