/ Juni 2, 2008/ Aufsätze

Mehr Informationen unter:  Handbuch der politischen Ikonographie, C.H. Beck Verlag

 

Agitation

Der Begriff der Agitation steht in der politischen Rede und Ikonographie in unmittelbarer Nähe zu dem der Propaganda, weniger ideologisch konnotiert auch zu dem der politischen (Wahl-) Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist eine Aufforderung zur politischen Einflußnahme, zumeist mit der Masse als Adressaten. Der Unterschied zwischen den Kampfbegriffen der Propaganda und der Agitation liegt weniger in der Form als in ihrer Funktion: Anders als bei der strategisch langfristig und prozeßhaft angelegten Propaganda, die auf die Verbreitung bestimmter politischer Ideen und Ideale zielt, ist die Aufgabe der Agitation die unmittelbare Auslösung von Handlungen oder Reaktionen. Im Gegensatz zum lateinischen cogitatio (›Denken, Nachdenken, Überlegen‹) überzeugt die agitatio nicht durch das abgewogene und vernünftige, diskursive Argument, sondern will durch emotionale, provokative, aggressive oder auch satirische Bildmittel Stimmungen und Handlungsaufforderungen verbreiten – »Kunst als Waffe«, wie Adolf Behne sich ausdrückte.i

Vorformen der Agitation mag man bereits in der Antike etwa bei den Volkstribunen wie den Gracchus-Brüdern finden.ii Auch im Mittelalter und der Renaissance verbanden beispielsweise Bußprediger wie etwa Girolamo Savonarola (14521498) die religiösen Inhalte mit politischen Aufforderungen – eine Strategie, die in der folgenden Reformationszeit bildnerisch in den Einblattdrucken, zumeist diffamatorisch gegen den Papst gerichtet, wieder aufgenommen wurde. Als politische, meist negativ konnotierte Bezeichnung wird das Wort Agitation bzw. Agitator erst im Europa der Neuzeit genannt. Zuerst im englischen Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts allgemein als ›Aufwiegler‹ in Zusammenhang mit Oliver Cromwell (15991658) und dem englischen Bürgerkrieg angewandt,iii wird der Agitator zum Ende des 18. Jahrhunderts etwa von Edmund Burke negativ mit den republikanischen Aktivisten während der Französischen Revolution in Verbindung gebracht.iv Die im frühneuzeitlichen Französisch gebräuchliche Bezeichnung des Viehtreibers als agitateur wurde nach der Revolution 1789 in der Gleichsetzung des plebs mit einer willenlosen Herde auf den politischen Agitator als verführenden Lenker übertragen.

Beide Begriffe, Agitation und Propaganda, haben ihre Wurzeln in der politischen Rhetorik der frühen Neuzeit, ändern aber je nach gesellschaftlicher und politischer Auffassung ihre Ausrichtung und Bedeutung. Eine positiv besetzte Agitation für die freiheitlich-republikanischen Werte ist bei Eugène Delacroix‘ (17981863) Historienbild Die Freiheit führt das Volk an zu erkennen (Abbildung 1).v Er malte das Bild in Erinnerung an die Aufstände des 28. Juli 1830, die zum Sturz der bourbonischen Monarchie und zur Einsetzung des Bürgerkönigs Louis-Philippe führten. In einer zur Allegorie gesteigerten Darstellung des Freiheitskampfes erhöhte er die revolutionären Ausbrüche in Paris, die er als Anhänger Napoleons persönlich eher mit Zweifeln miterlebt hatte.

Vor dem Hintergrund einer vorwärts stürmenden Menschenmasse ist eine Gruppe von sieben Personen zu sehen, aus deren Mitte eine mit einer phrygischen Mütze bekleideten Frau emporragt. Sie hält in ihrer linken Hand ein Gewehr, in ihrer linken reißt sie die Trikolore nach oben. Ihr Kleid ist im Kampftaumel halb heruntergerissen und erinnert in ihrem Faltenwurf an eine antike Toga. So erhält die den Schein einer Freiheitsgöttin des Volkes, einer »Gassenvenus«, wie Heinrich Heine sich 1831 ausdrückte.vi Die entblößte Brust verweist an die Nächstenliebe, die caritas, die in der Nation ihren politischen Rahmen finden kann. Mit der rechten Hand streckt die Freiheitsfigur als Marianne dem Betrachter die französische Trikolore entgegen, ihr Profil richtet sie auf die beiden Männer, die sie mit der Waffe gegen die Tyrannei verteidigen. Rechts von ihr springt ein Arbeiterjunge hervor, zwei Feuerwaffen in den Händen haltend, den einen kampfbereit nach oben gerichtet. Er blickt als Einziger den Betrachter direkt an und bindet ihn dadurch in das Geschehen ein.

Der Vorwärtsdrang der Gruppe, das Einfrieren der bewaffneten Aktion im Sturm und die Vorwärtsbewegung der die Fahne schwenkenden Freiheit appellieren an den Betrachter und reißen ihn mit. Das Bedürfnis der Anteilnahme wird durch die Dynamik und Dramatik der Szene erzeugt, das Publikum fühlt sich als Teil der revolutionären Massen, die von der zentralen Figur als Allegorie der Freiheit zum Sieg geführt wird. Dem Betrachter werden die revolutionären Werte der Einigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit, auf die durch die phrygische Mütze der Marianne und die Trikolore verwiesen wird, nicht diskursiv vermittelt. Statt dessen soll er durch die Dynamik des Bildes mitgerissen werden: Die Freiheit muß erkämpft werden! Die Freiheit führt das Volk an kann aufgrund seines appellativen Charakters für den aktiven Einsatz eines jeden Betrachters, der durch Dynamik, Emotionen und Integration hier zur Anteilnahme aufgefordert wird, zu den großen Agitationsbildern gezählt werden.vii Heinrich Heine gibt die zeitgenössische Rezeption des Bildes anläßlich der Salonbesprechung von 1831 wieder: »Heilige Julitage von Paris! Ihr werdet Zeugnis geben von dem Uradel der Menschen, der nie ganz zerstört werden kann. Wer euch erlebt hat, der jammert nicht mehr auf den alten Gräbern, sondern freudig glaubt er an jetzt an die Auferstehung der Völker. Heilige Julitage! Wie schön war die Sonne, und wie groß war das Volk von Paris! Die Götter im Himmel, die dem großen Kampfe zusahen, jauchzten vor Bewunderung, und sie wären gerne zur Erde herabgestiegen, um Bürger zu werden von Paris!«viii Das 1831 im Salon ausgestellte Bild wurde in der Nachfolgezeit wie kein zweites als die Ikone des französischen Freiheitskampfes verehrt. Die Freiheit vermittelt nicht allein, wie noch bei Davids Ballhausschwur, die Idee der repräsentativen Demokratie, sondern fordert beim Betrachter das zivile und republikanische Engagement gegen jede Form der Unterdrückung ein. Es ist diese integrierende und aktivierende, aber auch gewalttätige Dimension, die dem Bild seinen agitatorischen Charakter verleiht.

Auch in Deutschland wurde die Thematik des sozialen Protestes Gegenstand der Malerei im 19. Jahrhundert. Der Düsseldorfer Maler Johann-Peter Hasenclever (18101853) hielt auf dem Bild Die Arbeiter und der Magistrat den Moment der Übergabe einer Petition der Arbeiter an den Düsseldorfer Stadtrat fest (Abbildung 2).ix Die auf der linken Seite gezeigten Arbeiter reklamieren die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und übergeben selbstbewußt, leicht drohend ihre Forderung nach Rücknahme der zuvor ausgesprochenen Kündigungen und an die etwas überfordert und erschrocken ob dieser Anmaßung blickenden bürgerlichen Stadträte auf der rechten Seite. Der Blick durch das offene Fenster auf den Düsseldorfer Rathausplatz gibt den größeren Kontext der Begebenheit wieder: Eine aufgebrachte Menschenmasse, die von Rednern – Agitatoren – aufgepeitscht wird, dient der Delegation als Druckmittel, wie der Fingerzeig einer der Arbeiter auf die Masse verdeutlicht.

Die in der deutschen Kunst neue Darstellung der Arbeiter als gesellschaftliche Kraft, als Akteure des politischen Lebens, wurde in sozialistischen und sozialdemokratischen Kreisen positiv aufgenommen. Karl Marx, der zu der Zeit im Kölner Arbeiterverein agitierte, schreibt in einem Artikel für den New York Daily Tribune vom 12.8.1853 anläßlich der Ausstellung des Bildes in New York: »Diejenigen Leser, die meinen Artikel über die Revolution und Konterrevolution in Deutschland gelesen haben, welchen ich vor etwa zwei Jahren für die ›Tribune‹ schrieb und die von ihr ein anschauliches Bild gewinnen möchten, werden gut daran tun, sich das Gemälde von Herrn Hasenclever anzusehen, das jetzt im New Yorker Kristallpalast ausgestellt ist. […] Der hervorragende Maler hat das in seiner ganzen dramatischen Vitalität wiedergegeben, was der Schriftsteller nur analysieren konnte.«x Karl Marx trifft hier den Kernpunkt der Malerei in der Agitation: Anders als eine diskursiv-schriftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse kann die bildende Kunst Inhalte auf den ersten Blick vermitteln, Emotionen erzeugen und in der Folge spontane Handlung auslösen.

Die der Historienmalerei, und besonders der religiösen bzw. gegenreformatorischen Malerei, zugrunde liegende Erkenntnis, durch Bilder nicht nur Gelehrtheit zeigen zu können, sondern auch dem ungelehrten Publikum Inhalte zu vermitteln, wurde von den modernen politischen Bewegungen und Parteien zu agitatorischen Zwecken genutzt.xi Der Beginn des 20. Jahrhunderts markiert zum einen durch die technische und zum anderen durch die politische Entwicklung den Beginn der Hochphase der Agitation. Besonders die sich als Massenbewegung verstehenden politischen Gruppen wie die Kommunisten und die Faschisten, dann auch die Nationalsozialisten, setzten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die bildnerischen Mittel und der Massenmedien zur Agitation ein.

Die positive Verwendung des Begriffs Agitation in Deutschland im 19. Jahrhundert – Ferdinand Lasalle etwa verstand sich expressis verbis als Arbeiteragitator – beeinflußte die russischen Sozialisten, besonders Lenin, der bereits 1894 in seiner Schrift Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? die Bedeutung der Propaganda- und Agitationsarbeit für den revolutionären Prozeß herausarbeitete.xii Im Vorfeld der russischen Revolution wurde der Agit-Prop zu einem festen Bestandteil der politischen Theorie und Arbeit entwickelt. Auf der Grundlage der Definition Plechanows entwarf Lenin in seiner politischen Theorie das Dreistufenmodell der ideologischen Auseinandersetzung: die theoretische Arbeit, die Propaganda und die Agitation.xiii Die in der theoretischen Arbeit entwickelten politischen und ökonomischen Erkenntnisse und Argumente sollten durch die Propaganda langfristig im Bewußtsein der Bevölkerung verfestigt werden, während die Agitation kurzfristig und spontan die politischen Ziele und Vorstellung durch Aktionen umsetzen sollte.

Im April 1918 wurde in der sozialistischen Republik Rußland ein Dekret über die Demontage von Denkmälern zu Ehren der Zaren und ihrer Diener veröffentlicht, daß in einem zweiten Schritt die ›monumentale Propaganda‹ der sozialistischen Politik durch Denkmäler einforderte. Im Rahmen dieser ›Neuausstattung‹ der öffentlichen Räume wurden die Künstler eingeladen, neben der Aufstellung neuer Denkmäler, der Organisation der Massenbeeinflussung durch die Anbringung von politischen Zitaten oder Plakaten auch Agitationseinrichtungen wie etwa Rednertribünen für die neue sozialistische Stadt zu entwerfen. Bis zum Ende der 1920er Jahre sollten in der UdSSR Institutionen wie die Rosta (›Fortschritt‹, sowjetisches Telegrafenamt), Agitationszüge (wie der Rote Stern oder Lenin Nr. 1) und -schiffe, auf denen Musik-, Kino- (etwa des bekannten Agitfilms Panzerkreuzer Potemkin von Sergei Eisenstein, 1925) und Theateraufführungen veranstaltet und ein umfangreiches Propagandamaterial wie Wandzeitschriften oder Plakate als Instrumente des Agitprops bereit gehalten wurden, um die sowjetische Revolution im russischen Großreich zu verankern.

Futuristische und konstruktivistische Künstler engagierten sich in den ersten Jahren aufseiten der Revolution für die bildnerische und plastische Umsetzung der Agitation. Einige russische Künstler – etwa Wladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko oder El Lissitzky – sahen sich als Vorhut einer im künstlerischen Bereich bereits vollzogenen Revolution, die sie nun auch in der Gesellschaft umsetzen wollten.xiv »Was 1917 in sozialer Hinsicht geschah«, so Wladimir Tatlin auf dem achten Sowjetkongreß 1921, »ist in unserer bildenden Kunst 1914 passiert.«xv Die Formensprache und das damit verbundene geistige Konzept des Suprematismus war bereits als revolutionär empfunden worden, so daß einige Künstler der Überzeugung waren, sich als künstlerische Avantgarde auch an der bolschewistischen Revolution beteiligen und zur Festigung durch Agitation im alltäglichen Leben beitragen zu müssen.

Politische Plakate, etwa die von der russischen Telegrafenagentur herausgebrachten Rosta-Fenster genannten Drucke, waren ein wichtiges Agitationsmittel in der Sowjetunion, da sie durch die technische Vervielfältigung und der einfachen Anbringung in der Stadt schlagwortartig und schnell die Nachricht an die zu aktivierenden Massen bringen konnten.xvi Ein bekanntes Beispiel der künstlerischen Straßenagitation ist El Lissitzkys (18901941) Plakatentwurf Schlagt die Weißen mit dem Roten Keil von 1919.xvii Die Ablehnung der traditionellen Bildsprache und die Aufnahme suprematistischer Elemente war in sich bereits ein Akt der Revolte; allerdings entwickelte El Lissitzky hier Malewitschs Entmaterialisierung der Zeichensprache weiter in eine agitatorische Formel mit einer politischen Bedeutungsebene. Suchten die angesprochenen Arbeiter – das Plakat El Lissitzkys wurde in mehreren Versionen in den Straßen Moskaus aufgehängt – nach einer naheliegenden Bedeutung, assoziierten sie sicher schnell die Gleichsetzung vom roten Dreieck als die revolutionäre Kraft, die den weißen Kreis als Zeichen der versteinerten Monarchie sprengt. Hier steht nicht eine intellektuelle politische Überlegung im Vordergrund. El Lissitzky fordert vielmehr mit einer einfachen Zeichensprache die Massen zur aktiven Teilnahme an der Durchsetzung der bolschwestischen Revolution auf.

El Lissitzky arbeitete nicht nur plakativ und typographisch für die sozialistische Revolution, sondern auch im Bereich der Plastik und Architektur. Seine sogenannte Lenin-Tribüne etwa ist eine Arbeit für den sowjetischen Agitprop, die speziell für die Anforderungen der politischen Agitatoren als schnell aufbaubare Rednertribüne entwickelt wurde (Abbildung 3). Ein schräg von einem Sockel abgehendes Stahlgerüst sollte eine Rednertribüne für den agitierenden Redner tragen: In seinem Entwurf von 1924 ist prototypisch Lenin in dynamischer Pose dort hereinmontiert. Als Abschluß sollte auf dem Gerüst eine Fläche zur Projektion von begleitenden Bildern und Schlagworten angebracht war. Der schnelle Auf- und Abbau waren in diesem unrealisierten Projekt ebenso wichtig wie die dynamische Form und die moderne Stahlstruktur, die aus der Tribüne selbst bereits ein agitatorisches Denkmal machten.

Er gestaltete daneben auch Ausstellungsräume und Pavillons, wie beispielsweise als Chef einer Künstler-Brigade den Sowjetpavillon auf der Pressa in Köln 1928 (Abbildung 4), nachdem er bereits 1927 in Moskau auf der Allunions-Ausstellung alle Medien der politischen Agitation von der Raumgestaltung über den Katalog, den Plakaten und den Einladungskarten künstlerisch kombiniert hatte. Auch in Köln benutzte er in Zusammenarbeit mit 35 russischen Künstlern neben architektonischen Interventionen die ganze Spannbreit moderner Medien im Sinne eines Gesamtkunstwerks. Plakate, Zeitungen, Fotografien, Filme, kinetische Objekte, Lichtspiele, etc. sollten sowohl der Welt das ganze technische Können der Sowjetunion demonstrieren, als auch für die sozialistische Revolution werben. Die Grundaussage des Pavillons, der als ›Veranschaulichung der Grundprinzipien der Sowjetverfassung‹ zu verstehen war, kulminierte in der agitatorischen Losung: »Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch!«.xviii

Die von Lenin geforderte Zerstörung der monarchistischen Denkmäler brachte innerhalb Rußlands kontroverse Fragen nach der Funktion und der Form des Denkmals hervor. Wladimir Tatlin versuchte die durch die bürgerlichen und allegorischen Monumente geprägte Tradition durch eine Plastik zu ersetzen, die in der ungegenständlichen Form und durch das Material bereits die künstlerische und politische Intention erkennen läßt. Er setzte in seinen Denkmalentwürfen die Überlegungen zur monumentalen Form wie auch zur geforderten Agition der Massen gleichermaßen um. Die Planungen für das Monument für die III. Internationale (Abbildung 5) sahen eine drei mal in sich gedrehte, diagonal stehende doppelte Spirale aus Stahl vor, die über 400 Meter hoch in den Raum ragte.xix Zwischen den Spiralen sollten spitz zulaufende und sich nach oben verdichtende Trägerelemente im Zickzackmuster sowohl für statischen Halt sorgen als auch die aufwärtsstrebende Bewegung noch dynamisieren. Die Verjüngung des Turms nach oben unterstreicht diese Aufwärtsbewegung, die von den Betrachtern im Sinne der sozialistischen Befreiungsutopie (›Brüder zur Sonne, zur Freiheit‹) geistig fortgesetzt werden konnte. Die Spiralform setzt das Werden gegen das Sein,xx sie ergreift den Betrachter und versetzt ihn selbst in Bewegung.

Der nur geplante, mit Glas versehene Turm sah als Sitz des ›Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten aller Welt‹, so die Zuschreibung auf der Modellskizze von 1919, im Inneren funktionale Räume für die Institutionen der sozialistischen Weltgemeinschaft vor. Der im unteren Bereich geplante Würfel sollte die Legislative, die darüber liegenden Pyramide die Exekutive aufnehmen; an der Spitze sollten in einem zylinderartigen Bau die Nachrichtenzentrale als Zentrum der politischen Agitation seinen Platz finden, die von der in einer Kugel platzierten Nachrichtenagentur Rosta aus gesteuert würde. Verschiedene Sitzungs- und Ausstellungsräume hätten der direkten Agitation gedient, das Kommunikationsnetzwerk der Telegrafen- und Presseagentur sowie Radiostationen und Projektierungsapparate hätten die weitergehende politische Agitation besorgt. Der Turm hätte darüber hinaus als Zentrum eines beweglichen Agitationsapparats gedient, von dem aus Motorräder und Autos zu Agitationstouren aufgebrochen wären. »Als Grundprinzip ist zu betonen«, so erklärt Nicolaj Punin die Funktion des Monuments 1919, »daß […] im Denkmal alle modernen technischen Anlagen einzusetzen sind, die der Agitation und Propaganda dienen.«xxi Ein auf der Zeichnung von 1919 eingefügtes Transparent sowie eine rote Fahne auf der Spitze des Turms machten dessen Funktion als Ort der politischen Agitation kenntlich.

Der geplante Turm aus Stahl und Glas setzte durch das Material der modernen Industrie und durch die Dynamik der Form dem revolutionären Elan selbst ein Monument. Die Rezeption des nie realisierten Entwurfs wurde mitbestimmt durch dessen Veröffentlichung in einer Agitbroschüre Nikolaij Punins von 1920, der in dem dynamisch nach oben ragenden Stahl die revolutionäre Kraft der Bolschewiken sah. Auch El Lissitzky stützte diese Lesart: »Das Eisen ist stark wie der Wille des Proletariats, das Glas ist rein wie sein Gewissen.«xxii Tatlin setzte der sozialistischen Ideologie ein funktional gedachtes Denkmal, das den in seiner Konstruktion und Größe vergleichbaren, zur Weltausstellung 1889 gebauten und ebenfalls als Ausdruck des Fortschrittsglaubens zu begreifenden Eifelturm noch überbieten sollte. Tatlin schuf in dem Denkmal eine der klarsten Agitationsformen: Die diagonal laufende Spiralform erzeugt Dynamik, die den Betrachter ergreift und mitnimmt; sie ist das Sinnbild der teleologischen sozialistischen Bewegung, Sinnbild der angebrochenen sozialistischen Revolution.xxiii

In Italien sahen sich die Künstler ebenso wie in der Sowjetunion als Vorreiter und bisweilen Vordenker einer neuen Gesellschaft. Sie sind als Agitationskünstler anzusehen, die mit ihrem Drang nach Aktion, Dynamik und Durchdringung von Kunst und Leben ihre künstlerischen und politischen Anschauungen vereinten. Die Tat stand im Zentrum dieser künstlerischen Bewegung. Unter der Federführung Marinettis arbeiteten sie aktiv an politischen Zielen, die sie mit Gewalt und Zerstörung ebenso in Verbindung brachten wie mit Nationalismus und Kriegsbegeisterung, Technik- und Fortschrittsglauben. Künstler wie Carlo Carrà oder Umberto Boccioni verbanden die Begeisterung für die Geschwindigkeit der Großstadt mit einer aufgebrachten Unruhe, die radikale Veränderung und Umsturz provozieren sollte. Ihre Malweise in dynamischem Strich und gebrochener Komposition war bereits ein Akt des Aufbegehrens. Carràs Begräbnis des Anarchisten Galli (Abbildung 6) von 1911 ist ein Bild voller Bewegungen, die in ihrem zeitlichen Ablauf asynchron dargestellt werden. Das Grundthema ist der Aufruhr, der auch auf anderen futuristischen Bildern wie etwa Umberto Boccionis Aufstand bei der Galerie von 1910 dargestellt ist.xxiv Mehrheitlich in roten Farbtönen gehalten ist auf dem Bild Carràs eine sich bekämpfende Menschenmasse dargestellt, physische und psychische Energien durchdringen sich. Die Komposition ist nicht ausgeglichen, Diagonalen und Schraffuren erzeugen die Vorstellung von Tumult und Bewegung, die den Betrachter in das Geschehen hereinzieht. Die Konfrontation der verschiedenen Bildelemente vermittelt eine Ahnung der Zerstörung. Die roten Farben haben nicht nur eine politische Konnotation, sondern wirken aggressiv und vermitteln das Gefühl von Gefahr. Die den Betrachter mitreißende, in das Geschehen hineinziehende Darstellung – »Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild«,xxv wie es im Technischen Manifest von 1910 heißt – in Verbindung mit dem Gefühl der Bedrohung ist ein wichtiges agitatorisches Element in ihrer Kunst.

Das politische und künstlerische Manifest, das als Drucksache eine größere Verbreitung als die Malerei fand, diente auch der futuristischen Agitation. Unter dem Eindruck der österreichischen Besetzung Nordostitaliens entwickelte Filippo Tommasi Marinetti bereits in seinem ersten Manifest von 1909 eine Strategie der nationalrevolutionären Agitation.xxvi Nicht die politische Reflexion, sondern die an Ressentiments gegen Fremdbeherrschung und an den Panitalianismus und die Virilität appelierenden Gefühle sind Gegenstand des Manifests. Die Bewunderung des technischen Fortschritts geht hier Hand in Hand mit dem Wunsch, die kulturellen und gesellschaftlichen Werte der bürgerlichen Ordnung zu zerstören. Marinetti gibt verbal die agitatorische Stoßrichtung vor, der einige futuristische Künstler folgen sollten. Das Leben sollte nach seinen machistischen, nationalistischen, militaristischen und aggressiven Vorstellungen revolutioniert werden – Vorstellungen, die die Futuristen in ihrer Kunst bildnerisch und in ihren Aktionen politisch umsetzten. Sie fanden zu Beginn des Ersten Weltkriegs den passenden Moment, ihren Wunsch nach aktiver Teilhabe am politischen Leben umzusetzen. Ab 1914 agitieren die Futuristen direkt für den Kriegseintritt Italiens. Die Reiter-, Waffen- und Kriegsmaschinenbilder von Boccioni und Severini oder Carràs Collage der Interventionistischen Demonstration (Abbildung 7) waren Teil der Guerrapittura,xxvii einer Kriegskunst, die zur Verherrlichung des Krieges und zum Kriegseintritt Italiens aufrief. Die Futuristen trugen in der allgemeinen nationalistischen Bewegung Italiens ihren Teil dazu bei, daß die anfängliche Neutralität des Landes im Ersten Weltkrieg unter dem Druck der Öffentlichkeit aufgegeben wurde und Italien im Mai 1915 Österreich und Deutschland den Krieg erklärte.

In Deutschland erlebte die linke wie auch rechte politische Agitation während der Weimarer Republik eine Hochphase. George Grosz (18931959), der zu Beginn der 1920er Jahre für Zeitschriften wie die linksgerichtete Die Aktion arbeitete und die offene Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern suchte, wandte sich in Der Agitator (Abbildung 8) von 1928 diesen politischen Demagogen zu. Scharfzüngig karikiert er seine Zeitgenossen in ätzender Kritik; er stellte durch diese radikale Polemik einen verletzt und verzerrt aus dem Ersten Weltkrieg gekommenen Teil der Deutschen in ihren korrupten, verführbaren und verbrecherischen Seiten dar. Als politisch engagierter Künstler hatte er früher Tucholskys militärkritische Schriften Deutschland, Deutschland über alles gestaltet und die Sequenzen zu Erwin Piscators Bühnenadaption Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk gezeichnet, in denen er agitatorische Kriegstreiberei, Obrigkeitsgläubigkeit und Hurrapatriotismus kritisierte. Zum Ende der 1920er Jahre hin, als er den Agitator malte, distanzierte sich der ehemalige Spartakist Grosz vom Kommunismus und kritisierte alle Arten von Dogmatismus.

In Der Agitator stellt er den politischen Agitator prototypisch dar:xxviii Im Mittelpunkt des Gemäldes steht ein Männchen, das beide Arme in die Höhe streckt und sein finster dreinblickendes Gesicht schreiend verzerrt. In der linken Hand hält es eine krachmachende Kinderrassel, in der rechten Hand die für massentaugliche Schreihälse typische Sprechtüte. Verschiedene Beigaben und Attribute charakterisieren den Redner: Das Hakenkreuz an der Krawatte, das schwarz-weiß-rote Narrenhütchen auf dem Kopf, umkränzt von ›deutschen‹ Eichenblättern, die Kriegsorden und das ebenfalls in den kaiserlichen Reichsfarben gehaltene Herzchen am Revers. Der Redner ist ein deutschnationaler Militarist mit nationalsozialistischen Anschauungen. Seine Agitationsmittel umgeben ihn, neben der Sprechtüte der rasselnde Säbel und der drohende Gummiknüppel, die blecherne Trommel und der Farbeimer ihm zu Füßen. Das Grammophon soll seine Botschaft in die Welt tragen. Es ist die Kombination aus Gewalt und Lautstärke, die das Publikum beeindrucken soll. Die Versprechungen des Agitators sind in den oberen, gleichsam unerreichbaren Bereich entrückt: Zucht und Ordnung durch Kasernierungen und Trutzburg, Kommißstiefel samt Lorbeerauszeichnungen, paradiesische Speisen, Wein und ein die fleischlichen Genüsse versprechendes weibliches Hinterteil. Gierend und lechzend, aber auch verschreckt und verängstigt, starrt das männliche Publikum auf das versprochene ›Paradies auf Erden‹. Die angesprochenen Herren scharen sich im unteren Halbkreis um den Agitator. Ihre Kleidung verrät alle gesellschaftlichen Klassen, vom Bürgerlichen zum Militär, vom Adeligen zum Gauner. Die einen klatschen begeistert, die anderen sind vor Furcht erstarrt!

Ähnlich, wie John Heartfield in seinen Fotomontagen für die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung oder für die Rote Fahne die nationalsozialistische Demagogie offenlegt, zeigt Grosz die Mechanismen der agitatorischen Rede, die durch Emotionen, hohlen Versprechungen und auch Gewaltandrohung Reaktionen auslösen will. Die plakative Farbgebung in den Grundfarben Rot, Gelb und Blau verrät die Einfachheit der demagogischen Rede. Das Bild vermittelt dröhnende Lautstärke, das Wort fällt hinter der Geste und dem ohrenbetäubenden Krach zurück. Nicht das diskursive Argument mag die gierend bis ängstlich hereinblickende Masse vernehmen, sondern stumpfe politische Hetze. Grosz malt hier den Trommler, den Massenverführer, wie er ihn in der Weimarer Republik so häufig hat agitieren sehen. Der Bezug zur nationalsozialistischen Einschüchterungs- und Verheißungsstrategie und besonders zu Adolf Hitlers Selbstdarstellung etwa durch die Fotografien von Hilmar Hoffmann ist offenkundig (Abbildung 9). Doch zielt Grosz hier allgemein auf die krawallmachenden, deutschnationalen Spießer, die dann tausendfach den Weg zur Machtergreifung vorbereitet haben. Für Hannah Arendt schienen Grosz Zeichnungen und Gemälde „nicht Satiren, sondern realistische Reportagen“ zu sein: „wir kannten diese Typen; sie waren überall um uns“.xxix

Durch die überspitzte und aufreißende Darstellung des Agitators engagierte sich Grosz gegen jede Art der politischen Manipulation, jedoch blieb seine Arbeit, wie er nur wenig später selbst resigniert erkennen mußte, gesellschaftlich wirkungslos. Die Nationalsozialisten konnten ab 1930 Schritt für Schritt unter anderem durch Gewalt und eine ausgefeilte Propaganda- und Agitationstechnik die Massen für sich gewinnen. Adolf Hitler und sein ›Minister für Propaganda und Volksaufklärung‹ Joseph Goebbels vollendeten die demagogische Agitation – aufgrund der sowjetischen Verwendung des Begriffs mieden sie ihn –, indem sie durch die Verbreitung von antisemitischen, rassistischen und antikommunistischen Vorurteilen die eigene Bevölkerung zum gegenseitigen Terror aufwiegelten.

Die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus diskreditierten die Agitation nach dem Zweiten Weltkrieg, doch wurde sie in den 1968er Jahren im Umkreis der Studentenrevolten unter dem Stichwort des ›Agitprop‹ wiederbelebt. Durch Künstler wie Joseph Beuys erhielt der agitatorische Charakter der Kunst in seinem ›erweiterten Kunstbegriff‹ eine positive Besetzung als Aufforderung zur gesellschaftlichen und künstlerischen Partizipation. Ohne so bezeichnet zu werden, erlebte die Idee der Agitation als (künstlerische) Intervention in das gesellschaftliche Leben mit zunehmender zeitlicher Entfernung von den totalitären Regimen in Ost und West eine Renaissance, die sich in den 1990er Jahren etwa bei den Interventionen im öffentlichen Raum (bspw. ›Innenstadt-Aktion‹) zeigte. Auf politischem Gebiet wurden die Begriffe der Agitation und Propaganda heutzutage durch die der politischen Information und Wahlwerbung ersetzt; auch wenn sie heute nicht mehr als Agitation bezeichnet wird, so bleibt die politische Handlungsaufforderung zentraler Bestandteil der heutigen politischen Kommunikation.

Abbildungen

Abbildung 1: Eugène Delacroix. La liberté guidant le peuple, 1830, Öl auf Leinwand, 260×325cm, Paris, Musée du Louvre, R.F. 129 (aus http://cartel.louvre.fr/)

Abbildung 2: Johann Peter Hasenclever. Arbeiter vor dem Magistrat, 1848/50, Öl auf Leinwand, 145,5x224cm,Düsseldorf, Stiftung museum kunst palast, Inv. Nr. M 1978

Abbildung 3: El Lissitzky. Lenintribühne, 1924, Zeichnung (aus: El Lissitzky 1988, S. 195)

Abbildung 4: El Lissitzky. Eingangsraum der sowjetischen Ausstellungsräume auf der Pressa in Köln, 1928. (aus: El Lissitzky 1988, Nr. 208)

Abbildung 5: Tatlin. Modell für das Monument der III. Internationale, 1920 (aus: Tatlin 1988, Nr. 174)

Abbildung 6: Carlo Carrà. Il Funerale del’anarchico Galli, 1911. (aus: Ausstellungskatalog Italian Art. 19001945, Palazzo Grassi 1989, hrsg. von Pontus Sulten und Germano Celant, Mailand: Bompiani 1989, S. 321)

Abbildung 7: Carlo Carrà. Manifestazione intervenista, 1914, Collage auf Karton, Privatsammlung (aus: Umberto Boccioni, hrsg. von Uwe Schneede, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1994, S. 185)

Abbildung 8: George Grosz. Der Agitator, 1928, Öl auf Leinwand, 108x81cm, Amsterdam, Stedelijk Museum, Inv. Nr. A-59 (aus Grosz 1995, S. 359)

Abbildung 9: Hilmar Hoffmann. Adolf Hitler, 1925, Fotografie auf Postkarten (aus: Hoffmann 1994, S. 108, S. 110–11)

Abbildung 10: Joseph Beuys. Wahlplakat für Die Grünen, 1979

Abbildungsnachweise

Abbildung 1: Eugène Delacroix. La liberté guidant le peuple, sig. und dat., 1830, Öl auf Leinwand, 260×325cm, Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. R.F. 129 (aus: http://cartel.louvre.fr/)

Abbildung 2: Johann Peter Hasenclever. Arbeiter vor dem Magistrat, 1848/50, Öl auf Leinwand, 145,5x224cm,Düsseldorf, Stiftung museum kunst palast, Inv.-Nr. M 1978-2 (aus: )

Abbildung 3: El Lissitzky. Lenintribühne, 1924, Zeichnung (aus: El Lissitzky 1988, S. 195)

Abbildung 4: El Lissitzky. Eingangsraum der sowjetischen Ausstellungsräume auf der Pressa in Köln, 1928. (aus: El Lissitzky 1988, Nr. 208)

Abbildung 5: Tatlin. Modell für das Monument der III. Internationale, 1920 (aus: Tatlin 1988, Nr. 174)

Abbildung 6: Carlo Carrà. Das Begräbnis des Anarchisten Galli (Il Funerale del’anarchico Galli), 1911, Öl auf Leinwand, 198,7×259,1cm, New York, Metropolitan Museum of Art (aus: Ausstellungskatalog Italian Art. 19001945, Palazzo Grassi 1989, hrsg. von Pontus Sulten und Germano Celant, Mailand: Bompiani 1989, S. 321)

Abbildung 7: Carlo Carrà. Manifestazione intervenista, 1914, Collage auf Karton, Privatsammlung (aus: Umberto Boccioni, hrsg. von Uwe Schneede, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1994, S. 185)

Abbildung 8: George Grosz. Sequenz aus dem verschollenen Trickfilm zu Erwin Piscators Inszenierung »Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk«, Zeichnung (aus: Grosz 1995, S. 217)

Abbildung 9: George Grosz. Der Agitator, 1928, Öl auf Leinwand, 108x81cm, Amsterdam, Stedelijk Museum, Inv. Nr. A-59 (aus: Grosz 1995, S. 359)

Abbildung 10: Hilmar Hoffmann. Adolf Hitler, 1925, Schwarz-Weiß-Fotografien auf Postkarten (aus: Hoffmann 1994, S. 108, S. 110–11)

 

Anmerkungen

i Adolf Behne: Kunst als Waffe, in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, 34/1931, S. 301–304; vgl. den Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten, hg. v. Gerhard Langemeyer u. a., Ausstellungskatalog, Hannover, Wilhelm Busch Museum, München 1984. Aufgrund der Entfernung zur diskursiven Abwägung und der stärkeren Emotionalisierung wurde die Agitation je nach Standpunkt auch in die Nähe der Verführung, Demagogie und Manipulation gerückt: »Durch Sehen der Dinge im Zwielicht von Werbung, Propaganda und Agitation bleibt der Mensch im Zustand der Fesselung und Unmündigkeit.« (Johannes Hampe: Politik und Werbung, in: id. und Walter Grulich (Hg.). Politische Plakate der Welt, München 1971, S. 36; vgl. zur Einführung Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. V, Stuttgart 1984, s. v. »Propaganda«, S. 69–133, hier bes. S. 96 ff.).

ii Vgl. u. a. Christine Döbler: Politische Agitation und Öffentlichkeit in der späten Republik, Frankfurt am Main 1999, zugl. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München, S. 221ff.

iii Lateinisch agitare: »antreiben, anspornen, anreizen«, auch »beunruhigen, aufregen, in Aufregung versetzen, verwirren«, agitatio: »Bewegung, (geistige) Regsamkeit«, agitator: »Treiber, Lenker« (siehe Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1992, Bd. I, s. v. »Agitation«; siehe auch Walther Dieckmann: Information oder Überredung. Zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland seit der französischen Revolution, Marburg 1964, v. a. S. 93f.; siehe ferner Manfred Schütte: Politische Werbung und totalitäre Propaganda, Düsseldorf 1968, v. a. S. 19ff., der jedoch durch den Einfluß des Ost-West-Konfliktes bzw. der ‚kommunistischen Gefahr’ ein typisches, sehr einseitig negativ geprägtes Bild der Agitation hat: »Agitation soll hier als Werbemethode verstanden werden, deren Inhalt Negation und Radikalität ist.« (Ibid., S. 20.)

iv Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France, London 1790, vgl. zu Burke und der französischen Revolution László Kontler: Superstition, Enthusiasm, and Propagandism: Burke and Gentz on the Nature of the Frenche Revolution, in: Propaganda. Political Rhetoric and Identity. 1300–2000, hg. von Bertrand Taithe, Gloucestshire 1999, S. 97–114.

v Siehe neben einer Vielzahl von Monographien Nicos Hadjinicolaou: Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix. Sinn und Gegensinn, Dresden 1991, und zuletzt besonders für die Genese und die Vorzeichnungen Arlette Sérullaz und Vincent Pomarède: La liberté guidant le peuple, Paris 2004 (Collection Solo, Bd. XXIIX).

vi Heinrich Heine: Salonbericht über Delacroix, in: Cottas Morgenblatt, Nr. 260, 31.10.1831, hier aus id. Sämtliche Schriften, Bd. V, München 1976, S. 39.)

vii Das Bild wird in der kunsthistorischen Forschung kontrovers diskutiert, da sich Delacroix als Konservativer verstand, der das Moderne und die Republik nicht schätzte; er war ein »fanatischer Anhänger des Kaiserreichs«, wie Alexandre Dumas berichtet (Alexandre Dumas: Causerie sur Eugène Delacroix et ses oeuvres, Naumbourg 1865, Neuaufl. Delacroix, Paris 1996, S. 80/81, hier wiedergegeben aus Peter Rautmann: Delacroix, München 1997, S. 126). Es ist daher möglich, daß er sein Gemälde nicht mit einer aufrührerischen, revolutionären Intention gemalt hat. Alexandre Dumas trägt in seinen Causeries sur Delacroix zu einer ›revolutionären‹ Lesart bei, indem er über ihn rückblickend berichtet: »Als ich Delacroix am 27. Juli an der Arcole-Brücke begegnete, zeigte er mir Leute […] die an Straßensteinen ihren Säbel und ihren Degen wetzten. Delacroix […] drückte vehement seine Angst aus. Aber als er die Trikolore auf Notre-Dame flattern sah, er, der so ein fanatischer Anhänger des Kaiserreichs war, […] oh mein Gott, da hielt es ihn nicht länger zurück: die Begeisterung trat an die Stelle der Furcht und er rühmte das Volk, das ihn anfangs in Schrecken versetzt hatte.« (Dumas 1996, S. 80/81, hier wiedergegeben aus Rautmann 1997, S. 127.)

viii Heine 1976, S. 40.

ix Siehe zu Hasenclever zuletzt Johann Peter Hasenclever – 1810 bis 1853. Ein Malerleben zwischen Biedermeier und Revolution, Ausstellungskatalog, Solingen, Bergisches Museum, 4.4.–9.6.2003, Mainz 2003; vgl. zum historischen Kontext des Bildes Knut Soiné: Johann Peter Hasenclever. Ein Maler im Vormärz, Neustadt 1990, S. 166ff.

x »Those of your readers who, having read my letters on the German Revolution and Counter-Revolution written for the Tribune some two years ago, desire to have an immediate intuition of it, will do well to inspect the picture by Mr. Hasenclever now being exhibited in…New York…representing the presentation of a workingmen’s petition to the magistrates of Dusseldorf in 1848. What the writer could only analyze, the eminent painter has reproduced in its dramatic vitality.« (Karl Marx: Financial Failure of Government.— Cabs.— Ireland.— The Russian Question, in: New York Daily Tribune, Nr. 3844, 12.8.1853; auf Deutsch wiedergegeben in: Marx Engels Werke, Bd. IX, Berlin 1975, S. 237; vgl. Soiné 1990, S. 183.

xi Es finden sich viele Beispiele in der Bildenden Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in den die Masse durch die Masse angetrieben werden soll: Pelizza da Volpedos La Fiumana, 1895–96, bzw. Il quarto stato von 1898 gilt vor allem in der letzten von drei Versionen als das eindrucksvollste Bild der Arbeiterbewegung. Andere Bilder, etwa von Emilio Longoni (L’Arringatore, 1891), Alfred Philippe Roll (La Grève des Mineurs, 1880), Robert Koehler (Der Streik, 1886), Jules Adler (Der Streik in Le-Creusot, 1899), Ludwig Meidner (Revolution. Barrikadenkampf, 1912/13), Jakob Steinhardt (Arbeiteraufstand – Rote Fahne, 1920), Otto Griebel (Die Internationale, 1928-30). Sie alle versuchen auf eine ähnliche Art, das Gefühl der Solidarität mit dem der Aktion zu verbinden (siehe u. a. den Ausstellungskatalog Streik – Realität und Mythos, Berlin, Deutsches Historisches Museum, 21.5.–8.6.1992, hg. v. Agnete von Specht, Berlin 1992).

xii Auf Deutsch Wladimir Iljitsch Lenin: Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, Berlin 1950; vgl. u. a. Martin Beck: »Rhetorische Kommunikation« oder »Agitation und Propaganda«. Zur Funktion der Rhetorik in der DDR. Eine sprechwissenschaftliche Untersuchung, St. Ingbert 1991, S. 145ff.

xiii »Unter Propaganda würden wir die revolutionäre Beleuchtung der gesamten gegenwärtigen Ordnung oder ihrer Teilerscheinungen verstehen, unabhängig davon, ob dies in einer für einzelne oder für die breite Masse zugängliche Form geschieht. Unter Agitation im strengen Sinne des Wortes würden wir die an die Masse gerichtete Aufforderung zu bestimmten konkreten Aktionen verstehen, die Förderung eines unmittelbaren revolutionären Eingreifens des Proletariats in das öffentliche Leben.« (Wladimir Iljitsch Lenin: Was tun?, in: id.: Agitation und Propaganda. Ein Sammelband, Wien 1929 (Marxistische Bibliothek, Bd. VIII), S. 33.

xiv Siehe u. a. Anatolie Strigaljow: Agitprop – die Kunst exremer politischer Situationen, in: Berlin–Moskau. 19001950, hg. v. Irina Antonowa und Jörn Merkert, Ausstellungskatalog, Berlin, Berlinische Galerie im Gropius-Bau, 3.9.1995–7.1.1996, München 1996, S. 111–117. »Die Futuristen riefen die ›Proletarier der Fabriken und Böden zur dritten, unblutigen, aber grausamen Revolution, der Revolution des Geistes‹ auf, in der die Kunst ihre lebensgestaltende Funktion erfüllen sollte.« (Ibid., mit einem Zitat aus der Gaseta futuristow (Zeitung der Futuristen) vom 15.3.1918.) Siehe zur Verbindung von Kunst und Politik bei den ›linken Futuristen‹ u. a. Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Wien 2006, Kap. Vom ›Lebensschaffen‹ zum ›Lebensbauen‹. Die Konstruktivisten zwischen Produktionskunst und Agitationskunst, S. 211–231; und Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft. 19051955, München 2005, Kap. XVI, Künstler in Diktaturen: Die Sowjetunion und die revolutionäre Linke in Europa, S. 615–660.

xv Wladimir Tatlin: Nascha predstojaschtschaja rabota (Unsere bevorstehende Arbeit), in: 8. Sowjetkongreß. Tägliches Kongreßbulletin, Nr. 13, 1.1.1921, S. 11, hier wiedergegeben aus Strigaljow 1996, S. 112.

xvi »Das politische Plakat war zu dieser Zeit mehr als jede andere agitatorische Form mit den politischen Tagesereignissen verbunden. Vor allem in der Zeit von 1918 bis zum Ende des Bürgerkriegs 1921 war das Plakat das wirksamste Mittel im direkten Kampf der Weltanschauungen.« (Jule Reute: ›Die Straßen sind jetzt unsere Pinsel, unsere Paletten die Plätze.‹ Agitation und Propaganda als künstlerisch-politische Tätigkeitsfelder der russischen Avantgarde, in Mit voller Kraft. Russische Avantgarde 19101934, Ausstellungskatalog, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, 23.2.–10.6.2001, S. 91–102, hier S. 95.

xvii Es existieren verschiedene Versionen des Plakats, siehe Katalog El Lissitzky 1988, Nr. 19, S. 84; vgl. Frank Kämpfer: Der rote Keil. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte, Berlin 1985; zur Diskussion um die politischen Intention des Plakats vgl. Yves Alain Bois: El Lissitzky: Radikale Reversibilität, in: Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utropie in den 20er Jahren, hg. v. Hubertus Gaßner, Karlheinz Kopanski und Karin Stengel, Marburg 1992, S. 31–47).

xviii Siehe u. a. ibid., S. 27. Der faschistische Architekt Giuseppe Terragni sollte 1932 für die Feierlichkeiten des zehnjährigen Jubiläums der faschistischen Machtergreifung auf der Mostra della rivoluzione fascista in Rom ähnliche technische und mediale Kombinationen als Agitationmittel anwenden (siehe Giuseppe Terragni, Opera completa, hg. von Giorgio Ciucci, Mailand 1996, S. 382ff.).

xix Die Arbeit wurde nie realisiert; die erste Skizze zum Monument für die III. Internationale stammt aus dem Jahr 1919, das Modell von 1920; es existieren heute verschiedene rekonstruierte Modelle, siehe Larissa Alekseevna Zhadova: Tatlin, London 1988, S. 507f. und S. 512.

xx »Tatlin’s Monument is concerned with becoming rather than being.« (John Milner: Vladimir Tatlin and the Russian Avant-garde, New Haven 21984, S. 156, hier zitiert nach Felix Reuße: Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit, Stuttgart 1995, S. 138.)

xxi Nikolaij Punin: Über Denkmäler, in: Iskusstvo kommuny (Die Kunst der Kommune), Nr. 14, 9.3.1919, S. 2–3, neu hg. v. Larissa Alexejewna Shadowa: Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin, Weingarten 1987, S. 92–93, hier zitiert nach Reuße 1995, S. 146.

xxii Lissitzky 1922, S. 337, hier zitiert nach Reuße 1995, S. 144.

xxiii »Ähnlich, wie in der Renaissance die Proportion der Teile am besten durch das Dreieck ausgedrückt wurde«, so Nikolaj Punin in seiner Agitbroschüre über das Monument von 1920, »kommt der Geist unserer Zeit am besten durch die Spirale zum Ausdruck.« (Nikolaij Punin: Das Denkmal der III. Internationale. Ein Projekt des Künstlers W.J. Tatlin, 1920, neu hg. v. Larissa Alexejewna Shadowa. Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin, Weingarten 1987, S. 411–414, S. 413, hier zitiert nach Reuße 1995, S. 139.) Die Spiralform wird auch bei den Futuristen zur »maßgeblichen Form für die Dynamismusvorstellung« (Uwe M. Schneede. Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, S. 139).

xxiv Umberto Boccioni. Aufstand bei der Galerie (Rissa in Galleria), 1910, Öl auf Leinwand, 76x24cm, Mailand, Pinacoteca di Brera, siehe Umberto Boccioni, hrsg. von Uwe Schneede, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1994, S. 56; vgl. auch Umberto Boccioni. Die Stadt erhebt sich, 1910/11, Öl auf Leinwand, 200×290,5cm, New York, Museum of Modern Art, Mrs. Simon Guggenheim Fund.

xxv Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini. Die futuristische Malerei – Technisches Manifest, 11. April 1910, wiedergegeben in Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, S. 307–310, hier S. 308.

xxvi »Ein völlig souveränes Italien. – Das Wort Italien muß über das Wort Freiheit dominieren. […] Kult des Fortschritts und der Geschwindigkeit, des Sports, der physischen Kraft, des Wagemuts, des Heroismus und der Gefahr gegen Kulturbesessenheit, humanistische Ausbildung, Museen, Bibliotheken und Ruinen – Abschaffung der Akademie und Konservatorien.« (Marinetti. »Futuristisches Manifest“, in Le Figaro, 1909, hier wiedergegeben bei Schmidt-Bergmann 1993, S. 158.)http://www.chbeck.de/Warnke-Fleckner-Ziegler-Handbuch-politischen-Ikonographie/productview.aspx?product=24339

xxvii Umberto Boccioni. Angriff der Lanzenreiter, 1915, Mailand, Civico Museo d’Arte Contemporanea; Gino Severini. Gepanzerter Zug, 1915, New York, Museum of Modern Art, Gift of Richard S. Zeisler; Carlo Carrà. Interventionistische Demonstration, 1914, Collage auf Karton, 38,5x30cm, Privatsammlung (Mailand, Sammlung Mattioli).

xxviii Vorarbeiten zu dem Bild: Federzeichnung von 1920 und Aquarell von 1927 (siehe George Grosz. Berlin–New York, hg. von Peter-Klaus Schuster, Ausstellungskatalog, Berlin, Neue Nationalgalerie 1995, S. 358).

xxix Hannah Arendt hier zitiert nach Peter Gay: Weimar Culture. The Outside as an Insider, in: Donald Fleming und Bernard Bailyn (Hg.). The intellectual migration. Europa and America. 19301960, Cambridge 1969, S. 21; vgl. Beth Irwin Lewis: Grosz und Weimar: eine problematische Identität, in: Grosz 1995, S. 175–181; siehe für den weiteren Kontext u. a. John Willet. Explosion der Mitte. Kunst und Politik. 19171933, München: Rogner & Bernhard 1981.

 

 

Rezensionen zur Publikation

Grischka Petri: Rezension von: Uwe Fleckner / Martin Warnke / Hendrik Ziegler (Hgg.): Handbuch der politischen Ikonographie, München: C.H.Beck 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: http://www.sehepunkte.de /2011/06/15996.html.

Eveline G. Bouwers: Rezension zu: Fleckner, Uwe; Warnke, Martin; Ziegler, Hendrik (Hrsg.): Handbuch der politischen Ikonographie. 2 Bde., Bd. 1: Von Abdankung bis Huldigung, Bd. 2: Von Imperator bis Zwerg. München 2011 , in: H-Soz-Kult, 28.09.2011, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16394>.

Ralph Ubl, Gerhard Schröders Faust Kunstgeschichte mit ideologiekritischem Akzent: Das „Handbuch der politischen Ikonographie“ greift weit aus, bietet manchen brillanten Artikel, aber kein wirklich überzeugendes Programm, in FAZ, 03.07.2011.

 

Originaldokumente

Agitation

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