Carlfriedrich Claus gehört auf künstlerischem und intellektuellem Gebiet zu den großen Solitären der Nachkriegszeit in Ostdeutschland, als individuelle Künstlerpersönlichkeit jenseits des Mainstreams und fern der staatlichen Kulturpolitik. Sucht man nach ihm in den einschlägigen Übersichtswerken zur Kunst in Deutschland oder in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, ist es zumeist vergebens. Bei Carlfriedrich Claus, künstlerisch und intellektuell ein Autodidakt und mit der Welt durch Korrespondenzen verbunden, führte die Zurückgezogenheit seiner Existenz in der Peripherie der DDR dazu, dass er zeitlebens ein Nischendasein fristete und bis heute nicht von einem größeren Publikum wahrgenommen wird. Claus war überzeugter Kommunist, wurde aber von der offiziellen Kulturpolitik der DDR gemieden. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich gut an seiner Auseinandersetzung mit der Figur des Till Eulenspiegel darstellen, der ihn lange Jahre beschäftigte und zu dem er zwei Sprachblätter geschaffen hat.
Die Anfänge: Struktur und Sprache
Carlfriedrich Claus, 1930 geboren, lebte zurückgezogen im erzgebirgischen Annaberg im elterlichen Haus, ohne sich intellektuell von der Welt jedoch abgekapselt zu haben (Abb. 1). Im Gegenteil, bildungshungrig entdeckte er als Jugendlicher in Zeitschriften und Kunstbüchern die moderne Kunst, vor allem Picasso, auch Miró oder Klee. Er begann sich für künstlerische und philosophische Fragen zu interessieren, weniger indem er reiste (aber auch das), sondern indem er sich lesend und schreibend gedanklich bewegte und sich mit den stark politisierten gesellschaftlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit auseinandersetzte. »Ich war isoliert, aber verbunden mit den gesellschaftlichen Vorgängen«, erinnert er sich 1976 in einem Interview. »Es war also der Dialog mit sich selbst und mit den gesellschaftlichen Prozessen, politischen Prozessen und Naturprozessen. Also keine Flucht nach innen, keine Introversion.«[1] Wissbegierig fing er in den frühen 1950er Jahren an, Kontakt mit Personen aufzunehmen, von denen er sich Antworten auf seine Fragen erhoffte und die seinen Horizont weiten konnten. Unter diesen war in der Frühphase die wichtigste Person Will Grohmann. Der bis 1951 in Dresden und dann in West-Berlin lebende Kunstkritiker und Professor war ein konsequenter Verfechter der Abstraktion und Moderne. Grohmann und seine Assistentin Annemarie Zilz waren es, die ihm neue Perspektiven eröffneten, ihn in die Kunst und Kunsttheorie einführten, zu Fragen von Repräsentation und Abstraktion Antworten gaben, ihm aber auch Tipps zu Ausstellungen und Kontakte vermittelten. Über Grohmann angeregt, fing er an, Kandinsky zu lesen, sich für das ›Geistige in der Kunst‹ zu interessieren, studierte Bloch, Heidegger, Jünger und andere, nachdem er zuvor sich bereits mit Steiner und die Anthroposophie beschäftigt hatte.
Inspiriert von den modernen Formen der Poesie (Jean Arp u. a.), wandte er sich ab den späten 1940er Jahren der eigenen Poesie und dann der Lautdichtung zu, der Darstellung von sprachlichen »Konstellationen« (Eugen Gomringer) und von »Klang-Gebilden«, wie er sie nannte, die ihren Ausdruck in einem komplexen Kosmos von Zeichen und Gedanken fanden. Auf Anregung von Grohmann schickte er 1955 seine Poeme an Arp, der ihn in seinen poetischen Ambitionen bestärkte. Kontinuierlich arbeitete er weiter an seinen Gedichten, strukturierte, fragmentierte, isolierte Buchstaben und Wortteile auf dem Papier. Aus der Literatur und Sprache kommend, entwickelte Claus schreib-zeichnerisch visuelle Strukturen, die er zum Teil auch dadurch erzeugte, dass er als Rechtshänder mit links notierte, so dass weniger die Lesbarkeit im Vordergrund stand als vielmehr zeichenhaft-verfremdete Notate. Wie andere Künstler der Zeit, etwa der mit ihm befreundete Franz Mon, arbeitete Claus »im Zeichen der Verfremdung des Vertrauten, des Aufbrechens eingefahrener Seh-, Schreib- und Lesegewohnheiten […], um den Betrachter auf neue für sprachliche und visuelle Strukturen zu sensibilisieren«.[2] Die Hand wurde zum Seismographen des Denkens und Instrument zur Wahrnehmungsveränderung. Denn: »Schrift ist nicht nur Informations-Vehikel«, so Claus 1976, »auch sie selbst, das Vehikel selbst, sendet Signale aus, strukturelle Informationen.«[3] Er übertrugt diese Erkenntnis auch auf das Sprechen, das er seit 1959 mit Tonbandaufnahmen, »Sprechexerzitien« oder ›Lautprozesse‹ genannt, künstlerisch bearbeitete. Zwar nutzte er auch die Fotografie, aber sein primäres künstlerisches Feld waren bildhafte Sprachnotate auf dem Blatt, seine Arbeitsweise bei den Sprachblättern definierte er als »prozessuale, dialektisch-mehrschichtige Überführung von Denkprozessen in visuelle Spannungsfiguren«.[4] Die Selbstbeobachtung beim Denken stand also am Anfang des Bearbeitens eines Blatts: »Die Arbeit am Ich steht im korrelativen Verhältnis zur künstlerischen Arbeit«, schrieb er an den informellen Künstler Bernard Schultze 1957.[5]
Netzwerke: Möglichkeiten und Grenzen
Der Philosoph Ernst Bloch, der seit 1948 in Leipzig lehrte (und 1961 nach dem Bau der Mauer die DDR verließ), wurde einer der wichtigsten Denker für Claus. Blochs neomarxistischen Schriften wie der Geist der Utopie (1918) und vor allem Das Prinzip Hoffnung (1954–1959) haben Claus‘ Denken nachhaltig geprägt, sicherlich auch sein Interesse an Thomas Müntzer oder der Idee der Aurora als Ausdruck der Hoffnung auf eine politische Morgenröte (Aurora-Mappe, 1975–1976). Die von Bloch im Vorwort seines Prinzips Hoffnung notierte berühmte Sentenz: »Denken heißt Überschreiten« könnte auch als Motto für Carlfriedrich Claus gelten,[6] der aus den gedanklichen Netzwerken heraus seine unmittelbare Lebensrealität überwand und am utopischen Charakter des Denkens keinen Zweifel hegte, was ihn dann auch mit Teilen der jüngeren Generation von Nachkriegskünstlern in Ost und West verband. Claus suchte weltweit mit Personen, die ihn interessierten den brieflichen Kontakt. Er erhielt reichlich Antworten, oft auch Kunstwerke geschenkt, etwa von Fritz Winter. Umfangreiche Tagebücher, Korrespondenzen und seine Bibliothek, heute im Carlfriedrich Claus Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz bewahrt, zeugen von einem gewaltigen Wissenshunger und seiner Neugierde, aber auch von einem umfassenden Netzwerk. Ein großzügiger Austausch mit heute noch wichtigen Intellektuellen und Künstlern wie Jean Arp, Fritz Winter, Bernard Schultze, Franz Mon, Eugen Gomringer, Raoul Hausmann, Dieter Roth und vielen anderen mehr entspann sich, die Korrespondenzen umfassen mehr als 22.000 Schreiben.
Claus hatte sich Anfang der 1960er Jahre einen Namen als Autor und Künstler gemacht – wichtige Beteiligungen wie an Franz Mons Anthologie movens 1960 oder an der Ausstellung Schrift und Bild in Amsterdam und Baden-Baden 1963 bezeugen dies. Auch innerhalb der DDR wurde er in Kunstkreisen wahrgenommen, wo er und seine Korrespondenz aufgrund seiner West-Kontakte spätestens seit Anfang der 1960er Jahre allerdings vonseiten der Staatssicherheit überwacht wurden, ohne dass Claus sich politisch oppositionell zur DDR gezeigt hätte – im Gegenteil, er war unter dem Eindruck von Bloch überzeugter Kommunist, aber eben kein Staatssozialist. 1969 wurden seine Blätter als ›antisozialistisch‹ und ›antihumanistisch‹ vom Vorstand des Verbands Bildender Künstler des Bezirks Karl-Marx-Stadt eingestuft, er selbst zunehmend isoliert. 1974 wurde er auf Vorschlag von Thomas Ranft, der seine Aurora-Mappe druckte, im Verband aufgenommen und konnte erst dann aufgrund des offizielleren Status als Künstler freier arbeiten. Claus, der seine Überwachung und Isolation als »doch etwas paradoxe Situation« bezeichnete, antwortete 1976 auf die Frage nach seiner weltanschaulichen Position jedoch sehr klar: »Ich bin Kommunist.«[7]
Claus Verhältnis zur Partei und umgekehrt war also sehr angespannt. Der erste Ankauf für ein Museum überhaupt wurde 1964 mit der Erwerbung des Sprachblatts Wortfamilie durch den weitsichtigen Direktor des Dresdener Kupferstichkabinetts Werner Schmidt getätigt und damit der Grundstein für eine Reihe systematischer Erwerbungen durch das Kupferstichkabinett gelegt. Bis heute ist Dresden damit eine wichtige Sammlung für das Werk von Carlfriedrich Claus neben den Kunstsammlungen Chemnitz. Öffentliche Ausstellungen blieben Claus jedoch zunächst verwehrt, die Kontrolle der Post nahm zu, der Alltag wurde restriktiver; er bekam keine Bücher mehr zugestellt und die Ausleihe aus Bibliotheken wurde ihm erschwert. Auch hier zeigte sich Werner Schmidt als ein wichtiger Verbündeter: Claus konnte sich ab 1965 Bücher an das Kupferstich-Kabinett in Dresden schicken lassen. Konspiratives Komplizennetzwerk. Schmidt war auch wichtig für weitere Kontakte, so lernte Claus wichtige Persönlichkeiten wie Rudolf Mayer, dem Cheflektor im Verlag der Kunst und Herausgeber der eikon Grafik-Presse, oder Picassos Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler kennen, der anlässlich der Ausstellung von Picasso-Grafiken 1966 in Dresden war, ein Sprachblatt von Claus erwarb und mit ihm bis 1978 in Korrespondenz stand.
Diaphane Prozesse
Die frühen 1960er Jahre waren künstlerisch, von den Kontakten und Netzwerken her, aber auch konzeptuell für Claus von großer Bedeutung. In dieser Zeit manifestierten sich seine entscheidenden künstlerischen Positionen. So entstand 1961 sein erstes doppelseitig geschrieben-gezeichnetes Sprachblatt auf transparentem Papier (Erster versuchender doppelseitiger Sprachakt, 1961, Kunstsammlungen Chemnitz – Carlfriedrich Claus Archiv, WVZ-Nr. 247), um die Dimensionen des Blattes und des Denkens zu erweitern, Vorder- und Rückseite in Beziehung zu setzen. Die semantische Ebene wurde gesteigert und über die Diaphanie das Papier räumlich-objekthaft ausgeweitet – mit der Folge, dass auch die Betrachterinnen sich im Raum bewegend damit auseinandersetzen konnten.[8] Eine solche Erweiterung der Fläche in den Raum wurde einige Jahre zuvor von Lucio Fontana mit seinem Concetto spaziale und Perforationen des Bildes bekannt, allerdings ging es Claus um die von verschiedenen Seiten wahrnehmbare bildimmanente Dialektik von transparenter Vorder- und Rückseite. Er wollte hinter die Dinge schauen, Rückseiten erkennen, das Verborgene herausstellen und in Beziehung zur Oberfläche setzen. Er gab in verschiedenen, monatelangen Arbeitsphasen dem Prozess des dialektischen Denkens eine Form, die sich im Dialog von Vorder- und Rückseite manifestierte.
1964, dem Jahr der ersten Museumserwerbung in Dresden und der Fertigstellung seines frühen Hauptwerks Geschichtsphilosophisches Kombinat (1959–1964), veröffentlichte er den zentralen Text dieser Jahre in Franz Mons Typos Verlag in Frankfurt am Main: Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr. In diesem Text legte er unter anderem seine Überlegungen zur Schrift, zum prozesshaften Arbeiten und zur Doppelseitigkeit von transparenten Blättern dar. Das zweiseitige Arbeiten auf transparentem Papier, über das er seit 1957 bereits intensiver nachdachte, begrifft er dabei als Reflektion über die »Frage nach der Blatt-Rückseite als Existenz-Problem«, wie er noch 1989 an Werner Schmidt schrieb.[9] Die Ausgangsbasis seiner Überlegung war die Feststellung: »Schrift [… ist] zugleich Abbild.«[10] Die Schriftzeichen verweisen nicht nur auf Begriffe und Ideen, also nach Saussure als ›signifiant‹ auf den ›signifié‹, sondern stehen selbst als Zeichen für sich. Sie spiegeln zudem den Menschen, der sie formt, und sind »rückwärtige Landschaften des Ichs, das die angenommene, erlernte Schrift schreibt, wie Spiegelzeichen, Spiegelzeichen dessen, was als ‚Ich‘ durch das Auge blickt«. Der Blick des Schreibenden spiegelt sich in dem Blatt, die Person spiegelt sich darin, durch die Schriftzeichen wiederum lässt Claus »Spiegel-Räume« entstehen, die »versuchend ›betretbar‹« sind. Die Form, die er für diese Metaphorik findet, sind die diaphanen Blätter, die er doppelseitig bezeichnet und die, im Raum aufgestellt, von beiden Seiten zu betrachten sein sollen.
Er führte seine Gedanken sehr viel weiter und globaler aus, ging auf verschiedene Kulturen und Epochen ein, und griff unter Verweis auf Ernst Bloch die Vorstellung utopischer Vexier- und Sinn-Bilder auf. Der Sprache bzw. dem Sprachbild als Spiegelung kommt dabei eine wichtige Funktion zu als »wechselseitige Vermittlung der objektiven und der subjektiven Wirklichkeit«. Das Prozesshafte des Niederlegens von Zeichen und Bildern auf beiden Seiten des Papiers entspricht dem Prozess des dialektischen Denkens, denn: »Sprache, diese jene zuhöchst menschliche und vermenschlichende, dabei vielräumig-offene Materie, Prozeß-Materie, ist in dem Augenblick, in dem Subjekt sich ihrer bedient, gar sie formiert, objektiv und subjektiv zugleich. Sie spiegelt die rückwärtige Landschaft des informierenden Ichs, mit seinen aus ihrer sich vorschiebenden Triebgefühlfühlern, und übermittelt relativ objektive Sachverhalte, Mit-Teilungen.«[11] So können die Sprachblätter als Allegorien des Denkens verstanden werden.
Eulenspiegeleien
1964–1965 entwickelte Claus ein Blatt, das er als Eulenspiegel-Reflex betitelte (Kunstsammlungen Chemnitz – Carlfriedrich Claus Archiv, WVZ-Nr. 379, Abb. 2). Auch hier ging es zuerst um den Inhalt, weniger um die Form: Der Duktus der Hand war nicht zuerst Ausdruck eines unterbewussten Automatismus, sondern Ausdruck des Denkprozesses, wie er ihn in seinem oben genannten Text von 1964 beschrieb. Der Titel verweist auf die Geschichte des Till Eulenspiegel und führt damit, wie immer bei Claus, in den größeren inhaltlichen Kontext des Blattes ein, »als Eröffnung des Prozesses, der sich zwischen Betrachter und Sprachblatt abspielen wird«.[12] (Durch die prägnanten Titel werden Assoziationen geweckt, Denkreize stimuliert, bevor die Gefahr einer rein ästhetischen Betrachtung sich entwickeln könnte: Bei Claus heißt Sehen Denken.)
Eulenspiegel ist der bekannte Protagonist des mittelniederdeutschen Volksbuchs, das 1510 zum ersten Mal publiziert wurde. In Braunschweig soll er, einem Narren gleich, die Menschen provoziert haben, indem er bestimmte bildliche Redewendungen und Metaphern wörtlich nahm und so ihre Sinnlosigkeit aufdeckte. Aufgrund seines schelmenhaften Äußeren und seiner Boshaftigkeit wurde er nicht für voll genommen, jedoch war er es, der die Unzulänglichkeiten, die Angepasstheit und Dummheit seiner Mitmenschen und von Autoritäten vorführte, ohne sich direkt angreifbar zu machen. Schon Erich Kästner hatte 1938 im Kontext der NS-Diktatur die Geschichte nacherzählt und damit die Lesart des Eulenspiegels als subversiv-satirische Figur des intelligenten Widerstands geprägt. Diese Rolle des anarchischen Provokateurs, der zumeist um der Wahrheit willen sich auf eine unangreifbare und boshaft-humorvolle Art gegen überkommene Glaubenssätze wehrte und damit den Anspruch auf Selbstbehauptung formulierte, wurde eine beliebte Figur in der DDR. Anfangs von der offiziellen Kulturpolitik im Sinne der Erbetheorie als Vorkämpfer der ›kleinen Leute‹ vereinnahmt, wurde Eulenspiegel dann zunehmend ein beliebter Topos der camouflierten Eigensinnigkeit, ein Code für eine vordergründig einfältige, hintergründig machtkritische Haltung. Mit Satire wehrte man sich gegen die Parteiideologen. Literarisch wurde das Thema in der DDR von Christa und Gerhard Wolf erneut aufgegriffen, nachdem sich Bertolt Brecht in der unmittelbaren Nachkriegszeit damit prägend beschäftigt hatte. Das Literatenpaar Wolf publizierte 1972 die Erzählung für den DEFA-Film Till Eulenspiegel (1975) von Rainer Simon, der sich einer gewissen Popularität erfreute und durchaus auch Ventilfunktion hatte.[13] Claus trug zu dieser Lesart mit dem Eulenspiegel-Blatt bei. Das doppelseitig auf empfindlichen Umschlagpapier mit Feder, Pinsel und Tusche beschriebene und bezeichnete Blatt zeigt »papillarlinig« über das gesamte Blatt verteilt Schriftelemente und Vibrationsspuren –, die beidseitigen Schriftzeichen spiegeln die »rückwärtige Landschaft des Schreibenden im Moment seines Vorwärtsschreibens«, wie er 1964 in seinem theoretischen Text schrieb.[14]
Die Arbeit an dem Eulenspiegel-Blatt zog sich über mehrere Monate hin. Begonnen hat Claus es in einzelnen Phasen 1964 und beendet 1965. In den verschiedenen Phasen setzte er eigene inhaltliche Akzente. So begann er mit der Darstellung des jungen Eulenspiegel, endete aber mit dem alten Schalk, wie er im Interview von 1976 erklärte, wobei die Phasen sich überlagern und der junge nicht mehr erkennbar ist. Schreibend und linienführend erzeugte Claus auf Vorder- und Rückseite eine innere Landschaft, in der anthropomorphe Züge mit dem verzerrten und fragmentierten Gesicht des Protagonisten Till Eulenspiegel zu erkennen sind. Eine kappenähnliche Form ist oben rechts angedeutet. Zwei Augen, die durchbrochen sind und nach rechts unten zu blicken scheinen, und eine Mundpartie sind auf der Vorderseite des Blattes angedeutet; von hinten scheinen Umrisse, vibrierende Pinselsetzungen und ansatzweise lesbare Wörter durch. Dreht man das Blatt um, ist unter anderem zu lesen: »Die zerstörte Spiegelung«. Die Spiegelung – oder eben ›Reflexion‹, wie es im Titel in der doppelten Bedeutung von Spiegelung und Denkprozess heißt – ist einer der zentralen Begriffe auch des Textes von 1964. Andere Notate sind weniger gut zu lesen. Das eine Auge taucht auf der Rückseite ebenfalls als eigene Zeichnung in Korrespondenz zur Vorderseite wieder auf, während das andere von Ausdruckslinien überzeichnet ist. Augen, zumeist losgelöst von der Darstellung eines Gesichts, waren seit 1962 ein häufig wiederkehrendes bildhaftes Zeichen bei Claus (etwa auf dem bekannte Blatt Blickworte reflektierende Studie, 1962–1963, WV-Nr. Z 301) und Symbol unter anderem für die Spiegelung des zeichnenden Ichs zwischen Subjekt und Objekt.[15] Mit der Darstellung des Eulenspiegels als Ich-Landschaft fiel die durch Bloch geprägte Vorstellung der »Realchiffre« zusammen: Die Hoffnung auf eine Veränderung des aktuellen Zustands, so Claus in einem Brief an Bloch, war ein utopischer Ansatz.[16] In den Augenformen wiederum spiegelt sich der Betrachter in der unmittelbaren Sehsituation, integriert sich in den Seh- und Denkprozess. Die Sprachblätter öffnen sich zu ihrer jeweiligen Gegenwart.
Claus hatte die Volksbuchausgabe des Till Eulenspiegel als Ausgangspunkt genommen, in der die »Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt wurden«, wie er 1976 sagte, »eben durch Eulenspiegel, den ich nicht wie im üblichen Gebrauch als puren Schalksnarren verstehe, sondern als einen, der das Gesagte wirklich beim Wort nahm, der Konventionen und Zwänge von oben bewusst von unten zerstörte«.[17] Er schrieb ihm also eine durchaus revolutionäre Kraft zu und bettete ihn intellektuell ein in den historischen Materialismus als Abfolge von Gesellschaftsformationen, der in der DDR zur offiziellen Weltanschauung gehörte. Das Eulenspiegel-Thema setzte Claus in Beziehung zu revolutionären Figuren wie dem Prediger und Theologen Thomas Müntzer, mit dem er sich unter dem Eindruck von Bloch beschäftigt hatte, und zu den Bauernkriegen. Darüber hinaus hatte er wohl auch seine eigene Gegenwart im Blick, da Claus immer auch die »gesellschaftliche Wirksamkeit« seiner Blätter mitdachte.[18] Er interessierte sich bei der Infragestellung von Macht, von herrschaftlicher Gewalt durch Konventionen und Zwänge für Eulenspiegel auch deshalb, weil dieser seinem eigenen Handeln Sprache zugrunde legte – die wörtliche Umsetzung von Sprachbildern – und über die Dekonstruktion von Sprache die Dekonstruktion von Macht betrieb. Claus beeindruckte die Radikalität Eulenspiegels, der sein Leben für seine Überzeugung auf’s Spiel setzte. Man könnte versucht sein, die Eulenspiegel-Figur parallel zu lesen zu Claus‘ eigener Existenz – die von einer radikalen Kompromisslosigkeit hinsichtlich der eigenen Arbeit, von einem Leben des materiellen Verzichts am Rande des offiziellen gesellschaftlichen Lebens in Annaberg geprägt war – und zu seiner Arbeitsweise der Analyse sprachlicher Strukturen und Inhalte. Claus sah sich in seiner an Bloch geschulten Exegese von Karl Marx als unabhängiger Kommunist.[19] Angesichts der konstanten Überwachung, seiner eigensinnigen Haltung in Opposition zur Mehrheitsgesellschaft und den vom SED-Staat aufoktroyierten Normen kann angenommen werden,[20] dass Claus sich mit der Figur des Eulenspiegels durchaus identifizierte. Die Bezeichnung der ‚zerstörten Spiegelung‘ suggeriert dabei aber keine einfache affirmative Identität, sondern eine zerrissene, fragmentierte, zweifelnde, die in der Ambivalenz des Till Eulenspiegel ihre Entsprechung suchte.
Ausgestellt wurde das Blatt zuerst 1965 in Dresden durch Werner Schmidt. Jedoch wurden Darstellung und Thema zum Entstehungszeitpunkt Mitte der 1960er Jahre noch nicht besonders wahrgenommen. 1974 wurde es als Reproduktionsgrafik in höherer Auflage vertrieben (WVZ-Nr. G 15), Zeichen auch des zunehmenden Erfolgs des Themas, zuerst als Offsetlithografie nach einem Foto der Zeichnung in einer Auflage von ca. 200 Exemplaren, dann in geringerer Auflage als Hand-Klischeedruck, nachdem es von Lothar Lang, dem Herausgeber der Berliner Kabinettpresse, als Frontispiz für die Publikation Letzte Mappe von 1974 ausgewählt worden war. Durch die anthropomorphen Formen und die Allusionen des Titels war das Blatt aber nicht nur etwas leichter zugänglich, sondern es genoss knapp zehn Jahre später auch eine gewisse Popularität in der DDR, vor allem seit dem erneuten Aufkommen des Themas in der kurzzeitigen Liberalisierung Anfang der 1970er Jahre und dem Erscheinen des Buchs von Christa und Gerhard Wolf (1972) und des zugehörigen Films. Mit beiden stand Claus seit Beginn der 1970er Jahre in einem intensiven Austausch, ausgehend von der Zusendung einer Reproduktion des Eulenspiegel-Blatts im Juni 1971. Christa Wolf dankte es ihm und merkte an, nach dem Hinweis, dass sie es täglich sehen: »Ich glaube nämlich, dass man sich in Ihre Arbeiten sehr hineinsehen muß, sie mit Ihren eigenen Äußerungen dazu konfrontieren usw. Ich bin ziemlich sicher, daß Sie zu jedem Blatt oder Zyklus einen Miniatur-Essay schreiben sollten, und beide zusammen wäre die Ihnen gemäße Äußerung zu einem Thema, die sicher vor allem den Zweck hätte, andere, und sei es nur zu gedanklichen Äußerungen und Gegenäußerungen, anzuregen.«[21] Dies traf Claus‘ Vorstellung von der diskursiven Wirksamkeit seiner Sprachblätter. Die Vermutung liegt nahe, dass der Austausch zwischen ihnen die Auseinandersetzung mit dem Thema durch Christa und Gerhard Wolf noch befördert hat.
Umgekehrt gilt dies ebenso: Claus selbst hatte sich Mitte 1972 dem Thema erneut in einer Zeichnung zugewandt, dieses Mal in der Zeichnung Till Eulenspiegels Grab als Denkprozess (seine Wiederkehr als Guerillero), in Feder und Tusche beidseitig auf Transparentpapier gezeichnet (WVZ-Nr. Z 592, Abb. 3). Ist der Gegenwartsbezug beim ersten Blatt von 1964–1965 noch stärker hinter der historischen Vorlage kodiert, so wird er hier in zweifacher Hinsicht im Titel bereits betont, als gegenwärtiger Denkprozess und als antagonistische Kraft der Guerilleros, also der (südamerikanischen) Widerstandskämpfer. Claus bezog sich hier auf die Passage der Beerdigung von Eulenspiegel, als ein Seil riss und der Sarg in die Vertikale rutschte, so dass der Tote scheinbar wieder auferstand. Laut Tagebucheintrag vom 19.11.1972 sah Claus die beiden Blätter in einem Zusammenhang und verstand Eulenspiegel als Revolutionär. Er hatte auch dieses spätere Blatt mehrfach überarbeitet – eben ein Denkprozess – und bezeichnete es in einem Tagebucheintrag vom 5.11.1972 als »Psycho-Allegorie, die das Verwachsen unterschiedlichster psychischer Figuren und Tendenzen zu einem Konglomerat des Verschütteten demonstriert«.[22] Hatte er sich bei dem Blatt von 1964–1965 noch an der Aktualität des Protagonisten im historischen Volksbuch vor dem Hintergrund der Bauernkriege abgearbeitet, blickte er mit diesem Blatt auf die globalen Konflikte seiner Gegenwart. Er hatte in dieser Zeit mehrere Blätter zu den Konflikten in Vietnam (Vietnam: Un aspect de la paix, 1973, WVZ-Nr. Z 608) und zum Putsch der Junta in Chile geschaffen (z.B. Submarines im Bewusstsein …, 1973, WVZ-Nr. Z 609). Nun diente Eulenspiegel als Vorbild eines neuen Protagonisten, der sich kämpferisch für die Unterdrückten einsetzte: »›Eulenspiegel-Reflex‹ hat das Leben, Weiterleben des Eulenspiegel des Volksbuchs zum Inhalt. ›Eulenspiegels Grab …‹ sein (wie jedes Menschen) bitteres Sterben und seine ›Auferstehung‹ als anderer«, schrieb er an Christa und Gerhard Wolf. »Als Rächer. Man könnte evtl. auch sagen: Guerilla. D.h. zu dem Eulenspiegel, der da aus dem Grab steigt, muss das Buch, müssen die Geschichten erst noch geschrieben werden.«[23] Claus schrieb diese Geschichte zwar nicht, aber sie ließ ihn nicht los: 1983 verfasste er einen Text zu seinem zweiten Eulenspiegel-Blatt und ging auf die dreimalige Beerdigung und die Wiederkehr des Eulenspiegel als Guerillero ein.[24] Wie auch in vielen seiner anderen Sprachblätter zeigte er sich als politisch engagierter Künstler, als Kommunist, dessen Engagement zwar ähnliche Themen wie von der offiziellen parteipolitischen Agitation in der DDR aufgriff, das aber dieser in ihrer Haltung diametral entgegenstand. Intellektuell und künstlerisch, aber auch politisch handelte Claus eher selbst als Guerillero, als Kämpfer für Selbstbestimmung der Menschen, für Gerechtigkeit und Gleichheit. Angeregt von Ernst Bloch, ging es ihm in seinen Sprachblättern um die Emanzipation und Befreiung des Menschen durch das Denken zum »Erlernen der Mündigkeit«.[25] Eulenspiegel war dabei eine ihn über Jahrzehnte hinweg begleitende Leitfigur.
Festschrift-Holler_1964-1965_Bussmann
Ausst.-Kat. Chemnitz 2005
Schrift. Zeichen. Geste. Carlfriedrich Claus im Kontext von Klee bis Pollock, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen Chemnitz, 24.7.–9.10.2005, hrsg. von Ingrid Mössinger, Brigitta Milde, Köln: Wienand Verlag 2005.
Bloch 1954
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Berlin: Aufbau Verlag 1954, Bd. 1.
Böttcher 2018
Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an. Carlfriedrich Claus, Gerhard Wolf, Christa Wolf. Der Briefwechsel 1971–1998, bearb. v. Anka Paula Böttcher mit Gerhard Wolf, hrsg. vom Kunstkeller Annaberg e.V. und Chemnitzer Verlag, Chemnitz: Chemnitzer Verlag 2018.
Mon 2005
Franz Mon, »Claus lesen«, in Ausst.-Kat. Chemnitz 2005, 38–45.
Schmitz-Emans 2007
Monika Schmitz-Emans, »‚Utopisch aufgeschlagene Landschaft‘ Romantische Weltbuchtopik, Ernst Blochs Chiffernkonzept und Carlfriedrich Claus’ graphische Denklandschaften«, in Das Paradigma der Landschaft in Moderne und Postmoderne: (Post-) Modernist Terrains: Landscapes – Settings – Spaces, hrsg. von Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, 265–289.
Schmidt 1990
Werner Schmidt, »… et altera pars. Die Rückseite als Mittel der Kunst von Carlfriedrich Claus«, in Werner 1990, 34–39.
Schumann 1976
Henry Schumann, Ateliergespräche, Leipzig: VEB Seemann Verlag 1976.
Verheyen 2004
Bettina Verheyen, Till Eulenspiegel. Revolutionär, Aufklärer, Außenseiter. Zur Eulenspiegel-Rezeption in der DDR, Frankfurt (Main) u.a.O.: Lang 2004.
Werner 1990
Carlfriedrich Claus. Erwachen am Augenblick. Sprachblätter, Publikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung Städtische Museen Karl-Marx-Stadt 14.6.–19.8.1990, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 14.10.1990–6.1.1991 u.a.O., bearb. v. Klaus Werner, Karl-Marx-Stadt, Münster 1990 (zugleich Werkverzeichnis von Carlfriedrich Claus).
[1] Carlfriedrich Claus im Interview mit Henry Schumann, in Schumann 1976, 19–35, hier 21–22.
[2] Schmitz-Emans 2007, 279.
[3] Claus in Schumann 1976, 23.
[4] Claus in Schumann 1976, 31.
[5] Ausst.-Kat. Chemnitz 2005, 198.
[6] Bloch 1954, 14.
[7] Schumann 1976, 32 bzw. 31. Die Überwachung durch die Staatssicherheit, unter anderem im operativen Vorgang »Eremit«, hält bis zum Ende der DDR an.
[8] Siehe Schmidt 1990.
[9] Claus zit. in Schmidt 1990, 34.
[10] Dieses und die folgenden Zitate aus dem Text hier zitiert aus dem Wiederabdruck in Werner 1990, 91–103, hier 92.
[11] Ebd.
[12] Claus in Schumann 1976, 29.
[13] Siehe u.a. Verheyen 2004.
[14] Claus in Werner 1990, 103.
[15] »Im Bild der Landschaft«, so die Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans 2007 mit Blick auf das Eulenspiegel-Blatt, »konvergieren für Claus offenbar Objekt- und Subjektsphäre.« (Schmitz-Emans 2007, 281.)
[16] Claus in einem Brief an Ernst Bloch, 8.8.1974, in Werner 1990, 21, hier z. n. Schmitz-Emans 2007, 282.
[17] Claus in Schumann 1976, 33.
[18] Ebd., 31.
[19] In einem Brief an Christa und Gerhard Wolf vom 25.5.1972 definierte er: »Kommunismus (= herrschaftslose Gesellschaft)«, was nicht auf die von ihm erlebte DDR-Gesellschaft zutraf, aber sicherlich auch nicht auf die westliche (in Böttcher 2018, 22).
[20] Claus fühlte sich seit Anbeginn sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus als auch in der DDR ausgegrenzt und nicht zugehörig, kultivierte seine Unabhängigkeit und Eigenwilligkeit: »Was schon meine Kindheit beherrschte, das Gefühl, kein Deutscher zu sein und auch kein Deutscher sein zu wollen, ist geblieben«, schrieb Claus an Christa und Gerhard Wolf am 7.2.1973, »ich lebe als Fremder in der DDR.« (Ebd., 34.)
[21] Ebd., 10.
[22] Zit. n. Werner 1990, 243 (WV-Nr. Z 592).
[23] Böttcher 2018, 38–39.
[24] Abgedruckt in Werner 1990, 243 (WV-Nr. Z 592).
[25] Claus in einem Brief an Christa und Gerhard Wolf, 28.9.1974, in Böttcher 2018, 93.