/ August 1, 2019/ Aufsätze, Publikationen

Max-Pechstein-Preis, Zwickau 2019

Der Titel von Henrike Naumanns Rauminstallation DDR Noir. Schichtwechsel referiert auf den Film noir, mit dem vornehmlich die amerikanischen Kriminalfilme der 1940er und 1950er Jahre bezeichnet wurden, geprägt durch eine desillusionierte Weltsicht und deprimierte, verbitterte Typen, viel Schatten, starke Schwarz-Weiß-Kontraste und häufige Rückblenden. Verbunden mit der DDR, stellt sich bei mir eine Kette an Assoziationen ein: düstere Landschaften, vom Tagebau erodiert, graue und giftige Luft, verschmierte und dreckige Gesichter von Bergwerksarbeitern, Familiendramen und Enge. (Bilder, die sich durchaus auch mit bestimmten Regionen Westdeutschlands wie dem Ruhrgebiet einstellen könnten.) Ein solcher Rückblick auf die DDR – bei mir klischeehaft beladen, aus persönlicher Unkenntnis gespeist, bei Henrike Naumann aus der persönlichen Erinnerung, dem eigenen Erleben als Kind, Erzählungen der Familie und vornehmlich Schwarz-Weiß-Fotografien heraus – ist Thema ihrer Auseinandersetzung mit der DDR und der Nachwendezeit („Schichtwechsel“) in dieser Ausstellung, die nun im Rahmen des Max-Pechstein-Preises in Zwickau gezeigt wird.

Die Präsentation geht zurück auf eine Ausstellung, die Henrike Naumann in der Galerie im Turm am Frankfurter Tor in Berlin, der ehemaligen Galerie des Verbands Bildender Künstler der DDR, 2018 gezeigt hat. Hier kombinierte sie Mobiliar der Nachwendezeit mit Gemälden von Karl Heinz Jakob (1929–1997) aus den späten 1950er und 1960er Jahren. Jakob ist der Großvater von Henrike Naumann und war in der DDR ein angesehener Maler. Die gezeigten Gemälde kommen aus dem Fundus der kurz zuvor verstorbenen Großmutter Sigrid Jakob, Ehefrau des Malers, die auf eine eigene künstlerische Karriere zugunsten des Ehemanns und der Familie verzichtete. Angeregt zur Ausstellung wurde Henrike Naumann durch den Ort selbst, der aufgrund der exponierten Lage an der Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin eine wichtige Galerie des offiziellen Künstlerverbandes war, dem auch ihr Großvater angehörte. Zusammen mit ihrer Performance in der ehemaligen Stasizentrale in Berlin – einem Versuch, über „experimentelle Musik ein alternatives Kommunikationssystem zum Sprechen über Stasi und Opposition zu entwickeln“ (Henrike Naumann) – und den Ausstellungen Ostalgie in der Galerie KOW Berlin bzw. Urgesellschaft in dem von den Kunstsammlungen Chemnitz initiierten Chemnitz Open Space 2019 – zur ostdeutschen Identität und dem Blick auf DDR und Vereinigung heute – ist DDR Noir Teil einer sehr persönlichen Trilogie über die DDR, das Erbe der DDR und ihre Rezeption heute, aber auch über die ideologische Bewertung von Kunst, der Rolle des eigenen Großvaters und zugleich eine Reflexion ihrer eigenen Rolle als Künstlerin heute.

Karl Heinz Jakob war ein in der DDR geachteter Maler, dessen Sujets sich aus dem Bereich der Werktätigen und Arbeiter, wie von der offiziellen Kulturpolitik gewünscht, aber auch aus den Zeichenzirkeln sowie dem familiären Umfeld speisten. Jakob, dessen Großvater Bergarbeiter in Zwickau war, hatte dort von 1949 bis 1951 an der Mal- und Zeichenschule gelernt, war dann an die Kunstakademie in Dresden gewechselt, wo er bei Erich Fraaß, Wilhelm Lachnit und Rudolf Bergander studierte und 1955 sein Diplom erhielt. Auch vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Ausrichtung nach der Bitterfelder Konferenz von 1959 zur Annäherung von Kulturschaffenden und Arbeiterschaft („Greif zur Feder, Kumpel!“) wurde er Ende der 1950er Jahre beauftragt, ein monumentales Wandbild mit dem Titel Mechanisierung der Landwirtschaft für den Plenarsaal des Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt (eigentlich dem Kammersaal der IHK Karl-Marx-Stadt) zu malen, das er 1960–1961 ausführte. Heute wird das Wandbild durch eine Trockenbauwand vor den Augen der Öffentlichkeit in Chemnitz verborgen. Seit 1954, als er den Max-Pechstein-Preis der Stadt Zwickau zum ersten Mal bekam, über die mehrfache Auszeichnung mit dem Kunstpreis des Bezirks Karl-Marx-Stadt und des FDGB, dem Kunstpreis der DDR, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold bis hin zur erneuten Auszeichnung mit dem Max-Pechstein-Preis der Stadt Zwickau 1985, wurde Jakob mit den wichtigsten lokalen und nationalen Preisen und Ehrungen der DDR ausgezeichnet. Seine Malerei folgte einer dem Menschen verpflichteten Auffassung, häufig in sensiblen Portraitdarstellungen, die den Anforderungen realistischer Kunst genügen konnte, aber in der Nachfolge seines Lehrers Wilhelm Lachnit durchaus die Nöte der ihm vertrauten arbeitenden Bevölkerung schilderte, sie nicht als Vertreter einer abstrakten Klasse begriff, sondern als individuelle Menschen.

In ihrer Berliner Ausstellung platzierte Henrike Naumann die im Familienbesitz befindlichen Portraits der Familienmitglieder, aber auch Gruppen- und Feldszenen und Arbeiterdarstellungen, zusammen mit Möbeln und Inneneinrichtung aus den frühen 1990er Jahren, die ihr aus formalen oder inhaltlichen bzw. ikonographischen Gründen passend erschienen und die dem Mobiliar des Memphis-Stils der 1980er Jahre nachempfunden sind. Als Memphis-Stil, nach der Mailänder Design-Gruppe Memphis benannt, wurde der Bruch mit dem Funktionalismus der Moderne bezeichnet, den sich die Gruppe auf die Fahnen geschrieben hatte. So hängt Henrike Naumann ein Kinderportrait ihrer Mutter an ein Garderobengitter, das von einem stilisierten Sandmännchen und einer Mickey Mouse, einem rosafarbenen Badehocker und entsprechendem Badvorleger begleitet wird. Besonders eindrucksvoll ist das Portrait eines Bergarbeiters mit Helm (Zwickauer Kumpel, 1960), dessen körperliche und vielleicht auch seelische Erschöpfung im Gesicht und besonders in den müden aber offenen Augen ablesbar ist. Die Künstlerin setzt das Gemälde mit einer schwarz lackierten Bargarnitur mit Spiegeln, Goldverzierung und Hocker, aber auch einer goldenen Lampe mit den Bergbausymbolen Schlägel und Eisen in den Dialog. Aus heutiger Sicht würde man hier wohl eher von schlechtem Geschmack sprechen angesichts des Mobiliars, das auf vordergründige Weise Luxus und Exklusivität suggerieren sollte, dabei aber doch recht billig daherkommt. Dem Gemälde Zwei sitzende Bäuerinnen stellt sie ein verspieltes gezacktes Bücherbrett an die Seite, das den Bildhorizont auf der Wand fortführt. Die Vorstudien zu Jakobs Konzerteinführung hat sie in der Vitrine eines dunklen Wohnzimmerschranks arrangiert – fast, als seien sie unter Verschluss gehalten, schließlich wurde das ausgeführte Gemälde auf der 5. Deutschen Kunstausstellung in Dresden gezeigt und in einer westdeutschen Publikation von dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen über die politische Kunst in der DDR als Beispiel einer sozialistischen Nicht-Kunst abgewertet, was sie zur Auseinandersetzung mit der Ideologisierung der Kunstbetrachtung hier führte. Sie erschafft hier eine imaginierte Wohnungseinrichtung mit Badezimmerinterieurs, Wohn- und Esszimmer, Bar und Kinderzimmer. Teppiche, Sessel, geschwungene Bibliotheken mit der Büste des Portraits vom Großvater, Gardinen, Uhren, Sportgeräte und vieles mehr wurden von Henrike Naumann raumumfassend mit der Malerei ihres Großvaters in Szene gesetzt. Das Mobiliar hat sie auf Ebay von Privathaushalten erworben; es könnte aus westdeutschen Haushalten ebenso stammen wie aus ostdeutschen, steht aber für sie für die besondere Umbruchsituation nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, als vor allem auf dem ehemaligen Gebiet der DDR der Systemwechsel auch ästhetisch und in der Inneneinrichtung vollzogen wurde. Scheinbarer Wohlstand, Konsum und Überfluss zog in viele Haushalte ein. Der Funktionalismus der DDR-Möbel wurde von vielen ihrer Nachbarn unmittelbar nach der Einführung der D-Mark ersetzt durch neue Westmöbel, die mehr Platz ließen für die individuelle Suche nach Glück, Hedonismus und Erfolg jenseits des Kollektivs. Nichts ist unmöglich, erfinde Dich neu! Parallel dazu kam es zum Ausverkauf der DDR, zu dem nicht nur die Treuhand, die Wirtschafts- und Währungspolitik, sondern auch das Konsumverhalten der ehemaligen DDR-Bürger beitrugen.

Henrike Naumann setzt in der Präsentation DDR Noir auf den ersten Blick eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und den Großeltern in Szene. Für Naumann bildet diese persönliche Seite allerdings nur einen Zugang zu weitaus größeren und allgemeineren gesellschaftlichen Fragen, die sie zum Leben in der DDR, die Kunst in der DDR bzw. die Künstlerexistenz in der DDR, die Künstlerförderung damals, aber auch heute, den Abhängigkeiten und die Frage der Auftragsarbeit, damals wie heute stellt. Sie fragt aber auch nach dem Umgang mit dem Erbe der DDR, der Wendezeit und dem komplexen und ambivalenten Vorgang des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des (west-) deutschen Grundgesetzes und dem Blick heute auf diesen Prozess, den sie noch lange nicht genügend aufgearbeitet oder gar abgeschlossen sieht. Ein weites Feld, für das sie keineswegs systematisch und wissenschaftlich, sondern assoziativ und ästhetisch vorgeht, um aus der familiären Erfahrung heraus einen neuen Zugang jenseits von abstrakten Vorstellungen anzubieten. Durch die anachronistische und direkte Konfrontation völlig unterschiedlicher ästhetischer Ansätze wie der Malerei der späten 1950er und frühen 1960er Jahre sozialistisch-ostdeutscher Prägung und dem kapitalistisch-postmodernen Mobiliar westdeutscher Einrichtungshäuser entstehen Assoziationsketten und Brüche, die auf künstlerische Weise die ganze Spannweite der angedachten Bezüge in einer raumgreifenden Installation erfahrbar machen und zur Reflexion darüber einladen. Henrike Naumann inszeniert hier den vielleicht größtmöglichen Kontrast zweier ästhetischer Regime, die auf den zweiten Blick aber vielleicht gar nicht so konträr zueinander sind wie sie erscheinen. Das Nachwendemobiliar trägt das Versprechen auf eine positive Zukunft in sich, Imitate des Glücks, ein Simulacrum blühender Landschaften im häuslichen Miniformat. Das lässt sich auch für die Rolle sagen, die der Kunst von DDR-Kulturpolitikern zugeschrieben wurde, als die des optimistischen Ausdrucks des Versprechens auf ein gleiches und glückliches Lebens im Sozialismus. So umgeben wir uns mit Wunschbildern, die aus unterschiedlichen ideologischen und politischen Systemen gespeist sind, die aber gemein haben, dass wir als Konsumenten von Kunst und Design unsere Hoffnungen und Wünsche darauf projizieren. Zugleich sind wir eingebunden in die uns umgebenden ästhetischen Regime, von denen wir uns in der Regel nur schwer emanzipieren können. Der „ästhetische Clash“ (Henrike Naumann) zwischen den Systemen und Generationen lässt bei aller visuellen Dissonanz über vermeintliche Geschmacks- und Systemgrenzen und Epochenwechsel hinweg Kontinuitäten erkennen. Die Installation trägt dazu bei, nicht einseitig zwischen ‚regimetreu‘ und ‚oppositionell‘ unterscheiden zu wollen, sondern den Blick auf die DDR in all ihrer Ambiguität und Widersprüchlichkeit zuzulassen und sich der ideologischen Bedingtheit des eigenen Blicks bewusst zu werden.

Naumann_DDR-Noir-Zwickau2018-Bussmann
Share this Post