/ April 1, 2016/ Ausstellungstexte

Vom 4. April bis 26. Juni 2016 gewährt das Museum der bildenden Künste Leipzig zwei ‚Fluchtautos‘ des in Dresden lebenden Künstlers Manaf Halbouni Aufnahme. Halbouni entwickelte die Idee der künstlerischen Adaption von Fluchtautos in Reaktion auf die Pegida-Demonstrationen Anfang des Jahres 2015 (Sachse auf der Flucht). Bereits im Jahr 2014 hatte er mit der Arbeit Entwurzelt dem Gefühl der Zerrissenheit und Entwurzelung durch ein mit Hausrat bepacktes, aber nicht mehr fahrtüchtiges Fahrzeug Ausdruck verliehen. Bei Sachse auf der Flucht parkte der deutsch-syrische Künstler am Versammlungsort der Pegida-Demonstranten einen dunklen Mercedes, auf dessen Dachgepäckträger „klischeehafte Habseligkeiten“ (Halbouni) wie Gartenzwerge, ein Sonnenschirm, ein Bierkasten der Marke Radeberger und ein Kühlschrank verstaut waren. Der Künstler rief dazu auf, sich vor dem Auto fotografieren zu lassen und ihm die Bilder zur Veröffentlichung im Internet zuzuschicken. Auf ironische Art konnte man sich mit Geflüchteten fremder Länder solidarisieren und eine Gegenöffentlichkeit bilden, zugleich aber auch den eigenen Fluchtreflex vor einer bedrohlich anwachsenden Fremdenfeindlichkeit im eigenen Land bezeugen.

Unter dem Projekttitel Nowhere is Home (wörtlich: „Nirgends ist zuhause“) zeigt Halbouni in Leipzig zwei mit Hausrat bepackte Autos der Marke Volkswagen. Die beiden VW Polos wurden zuvor im Begleitprogramm der Biennale in Venedig 2015 und im Victoria and Albert Museum London präsentiert. Zu sehen sind hier nicht mobile Statussymbole, die einer um ihren Wohlstand und Sicherheit fürchtenden bürgerlichen Mittelschicht gehören könnten, die in Dresden oder auch in Leipzig aus Gründen einer gefühlten Unsicherheit Stimmung gegen Geflüchtete macht, sondern ältere Modelle niedrigpreisiger Kleinwagen. Auf dem Dach der Autos türmen sich Koffer, Bierkästen, ein Keyboard, ein Teppich und anderer Hausrat. Das Mobiliar ist nicht als Inszenierung einer verarmten Unterschicht angeblich unterentwickelter Länder zu verstehen, sondern einer globalisierten und auch in Deutschland vorherrschenden Konsum- und Wohnkultur zuzurechnen. Ebenso wie bei seiner Arbeit Sachse auf der Flucht stellt Halbouni mit dem Verzicht auf eine stereotype, exotisierende Auswahl des Hausrats die Frage des flüchtenden Subjekts wieder neu: Wer flüchtet vor wem aus welchem Grund?

Manaf Halbouni, Nowhere is Home, 2015 – 2016, © Manaf Halbouni, Foto: Punctum/B. Kober (im Hintergrund: Wolfgang Mattheuer, Mann mit Maske, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Der Wagen, der freilich den heute zu Fuß flüchtenden Menschen nicht zur Verfügung steht, kann zum Symbol der Hoffnung werden auf dem Weg zu einem sicheren Hafen, den die Flüchtenden – so der Hinweise durch die Auswahl der Automarke – in Deutschland zu finden glauben. Ein bepacktes Fahrzeug oder andere Vehikel galten lange Zeit als emblematisch für das Thema Flucht und Vertreibung, bevor die Flüchtlingsströme das Mittelmeer per Boot zu überqueren versuchten oder zu Fuß den Balkan passierten. Steht einem noch ein Gefährt zur Verfügung, wenn das Heim verlassen werden muss, werden gut verschnürt die wichtigsten Habseligkeiten darin und darauf verstaut. Das so in Beschlag genommene Auto wird zur neuen Heimat, die sich der Bedrohung durch Bewegung zu entziehen sucht. Das Mobile steht dem Sesshaften als erzwungenes Lebensmodell gegenüber, wie man es auch bei Andreas Slominskis Fahrrad von 1994 in der zweiten Etage des Leipziger Museums sehen kann. Mit Plastiktüten und Koffern bepackt, könnte das Fahrrad den mobilen Hausrat eines Obdachlosen zeigen. Diese Form der Mobilität spiegelt die prekäre Gegenseite einer durch die Globalisierung zu Prosperität gelangten wirtschaftlich und politisch erfolgreichen Welt wider.

Ähnliche Ansätze wie bei Halbouni, durch Fahrzeuge das Thema Flucht aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen künstlerisch zu verarbeiten, finden sich zum Beispiel bei Francis Alÿs, der einen VW-Käfer in Tijuana an der Grenze von Mexiko zu den USA sisyphosartig immer wieder einen Berg hochfahren und runterrollen ließ (Rehearsal I, 2000/2004), oder etwa bei Anna Fasshauer, die ihren weißen Saab, der unter der Last von Koffern und Taschen auf dem Dach einzubrechen drohte, vor einem Bingener Kriegerdenkmal zur Erinnerung an die Toten des Ersten Weltkriegs parkte (Skulpturen-Triennale Bingen, 2014).

Manaf Halbouni, Nowhere is Home, 2015 – 2016 © Manaf Halbouni, Foto: Punctum/B. Kober

Das Automobil, wörtlich abgeleitet aus dem Begriff der ‚Selbstbewegung‘, war im 20. Jahrhundert lange Zeit Ausdruck von Selbstbestimmung, Individualität und Freiheit, je nach Modell auch von Status, Reichtum oder jugendlichem Vergnügen. Lässt man seine funktionalen Aspekte, die bei der Flucht allein im Vordergrund stehen, im Museumsraum außer Acht, bleibt der symbolische Gehalt von Freiheit und Selbstbestimmung des Autos übrig. Auf die Frage von Flucht und Entwurzelung übertragen, kann der Wagen als Symbolisierung einer selbstbestimmten Handlung verstanden werden, des letzten Versuchs von Flüchtenden, sich nicht einem Schicksal oder höheren Gewalt zu ergeben, sondern ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Vergleicht man das Fahrzeug mit anderen Bewegungsmitteln wie dem Karren oder dem Esel, kann das flüchtige Auto auch mit ethischen Fragen aus der Bibel in Zusammenhang gebracht werden; man denke hier etwa an die biblische Erzählung der „Flucht nach Ägypten“, mit der auch der barmherzige Akt der Aufnahme der Heiligen Familie in der Not durch die Ägypter verbunden wird.

Jenseits einer zu engen religiösen Interpretation kann die Arbeit Nowhere is Home heute als Fragestellung über die Bedeutung eines Lebens jenseits von traditionellen Heimatbegriffen aufgefasst werden. Die Entwicklung eines globalisierten, entwurzelten Nomadentums wird in den kommenden Jahren noch stärker auf die europäischen Gesellschaften zukommen und neue Diskussionen über Identitäten und Werte fernab hergebrachter Vorstellungen von ‚Abendland‘ und Heimat hervorbringen. Insofern ist Nowhere is Home in Leipzig – der Stadt, aus der nach dem Mauerfall bis in die Mitte der 1990er Jahre etwa 25.000 Menschen auf Arbeitssuche in den Westen emigrierten – auch als ein künstlerischer Beitrag zur Aushandlung ethischer Werte in unserem gesellschaftlichen Miteinander zu sehen.

 

Weitere Infos unter http://www.mdbk.de/ausstellungen/archiv/2016/manaf-halbouni/ und http://www.katharinamariaraab.com/artists/manaf-halbouninowhere-is-home/.

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