Stefan Vogels Raum-im-Raum-Installationen in den Kunstsammlungen Chemnitz können Unsicherheit und Unbehagen erzeugen, bei Besucher:in wie auch beim Museum. Die Ausstellung ist dem Keller gewidmet und die zweite Station einer Reihe, die in der Gesamterscheinung ein Haus bilden wird. Die Kellerräume wecken dunkle Phantasien und rufen abstruse Szenen hervor. Durch Einbauten, Verkürzungen, neue Proportionen, veränderte Lichtverhältnisse, rohe und im Ausstellungsbereich ungewohnte Materialien wie Zement und alchemistisch anmutende Objekte erfährt das Publikum eine unerwartete und irritierende Erfahrung der Ausstellungsräume am Theaterplatz. Stefan Vogel arbeitet sich mit seinen Raumkonstruktionen, Werkpräsentationen und Assemblagen von Erinnerungsstücken vom Keller in die Nebenräume empor bis in den großen, hellen Oberlichtsaal. Er baut hier seinen Seelenzuständen ein Haus der Erinnerungen. „Wohlgemerkt, dem Haus ist es zu danken“, so der französische Philosoph Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes von 1957, „dass eine große Zahl unserer Erinnerungen ‚untergebracht‘ sind, und wenn das Haus etwas kompliziertere Gestalt annimmt, wenn es Keller und Speicher, Winkel und Flure hat, dann bekommen unsere Erinnerungen mehr und mehr charakteristische Zufluchtsorte.“[1] So erschafft Stefan Vogel in Chemnitz eine Etage seines großen Hauses als ‚Zufluchtsort‘ der Erinnerungen, denn, so Bachelard weiter, „die Erinnerungen sind unbeweglich, und um so feststehender, je besser sie verräumlicht sind“.
Stefan Vogel ist kein Freund von klassischer Hängung und Präsentation, in dem seine Arbeiten im Museums- oder Ausstellungsraum neutralisiert und sterilisiert werden könnten. Seine Strategie ist eher die der Dekonstruktion der aufwertenden Auratisierungsmechanismen im White Cube heutiger Ausstellungshäuser. Er will aber nicht auf diesen kulturellen Rahmen verzichten, sondern seine Räume bewusst in ein Spannungsverhältnis zu den vorherrschenden Erwartungshaltungen setzen. Seine Kunstwelten erinnern bisweilen an Unterwelten und lassen das Publikum zum neuzeitlichen Orpheus werden. Die Wahrnehmung und Eindrücklichkeit der installierten Bilder und Objekte verändern sich durch den neuen Kontext komplett, wobei die ästhetische und emotionale Erfahrung der Besucher:innen Teil seiner künstlerischen Überlegungen ist. Damit steht Vogel in einer längeren Tradition der modernen und der Gegenwartskunst.
Es war die europäische Moderne, die dem autonomen Kunstwerk den autonomen Kunstraum an die Seite stellte und im Kult der Selbstreferenzialität alles andere ausblendete. Raum und Kontext mitzudenken und nicht nur aus dem eigenen Atelier heraus zu arbeiten, gab es vor dem Hintergrund der Diskussion um die Verbindung von Kunst und Leben aber immer wieder in der avantgardistischen Moderne, etwa wenn man an die Erste internationale Dada-Messe in Berlin (1920), Kurt Schwitters Merzbau (ab 1923), das Kabinett der Abstrakten von El Lissitzky in Hannover (1926–1928) oder die Environments avant la lettre in den Ausstellungsbeteiligungen von Marcel Duchamp (1200 sacs de charbon suspendus au plafond, in der Exposition internationale du Surréalisme, 1938 oder 1600 Miles of String in der Ausstellung First Papers of Surrealism in New York, 1942) denkt.[2] Von Richard Wagners Gesamtkunstwerk hin zum Programm des Bauhauses beschäftigte die Integration verschiedener Kunstgattungen und des Raumes die gesamte Moderne, ohne dabei in der jeweiligen Zeit dominierend zu sein. Das sollte sich in der Nachkriegszeit und dann vor allem ab den späten 1990er Jahren ändern.
Ein grundlegender Wandel im Verständnis dessen, was ein Kunstwerk ist, wie es sich zum Rezipienten und zum Kontext verhält, fand in den künstlerischen Entwicklungen nach 1945 (zum Beispiel Lucio Fontanas Ambiente spaziale a luce nera, 1949 oder John Cages Theater Piece No 1 1952) und vermehrt seit den 1960er Jahren statt, als Situationisten, Nouveaux Réalistes und Pop Art die Grenzen zum Alltag öffneten (zum Beispiel Claes Oldenburgs Environment The Store, 1961 oder auch Alan Kaprows Words in der Smolin Gallery, 1962). Die Minimal Art und die ihr folgenden künstlerischen Entwicklungen machten – bei allem Anspruch auf Autonomie – den Raum und die Wahrnehmung in der Bewegung im Raum zum wesentlichen Teil der künstlerischen Reflexion (wie etwa Carl Andre, Robert Morris, Walter de Maria oder auch Dan Graham oder Bruce Naumann).
Gerade auch Künstlerinnen wandten sich der Installationskunst und Performance zu, häufig unter feministischer Sicht stärker konzeptuell ausgerichtet, wie etwa Miriam Schapiro und Judy Chicago (zum Beispiel den Space Womanhouse, 1972, mit Einladung an andere Künstlerinnen) oder Mary Kelly (zum Beispiel das stark konzeptuelle Post-Partum Document, 1973–1979), ließen diese doch mehr Freiraum jenseits der etablierten Strukturen zu und banden multiperspektivische Zugänge und partizipative Ansätze ein. Mary Kelly wurde eine der zentralen Positionen in der Legitimation der Installationskunst als antiautoritäre und damit in ihren Augen auch antimännliche Haltung. Nicht die eine Perspektive, nicht die Kontrolle über die komplette Erfassung eines Kunstwerks – die als männlich und bourgeois interpretiert wurde (Hans Sedlmayr hatte in einer reaktionären Abwehrhaltung gegen die Moderne in den 1950er Jahren bekanntermaßen den „Verlust der Mitte“ beklagt) – sondern Bewegung, Vielfalt, Perspektivwechsel und nur ausschnitthafte Wahrnehmung wurden als offene, demokratische und feministische Form einer fortschrittlichen Kunst und Vermittlung verstanden. Das Universum der Malerei wurde durch das ‚Multiversum‘ der Installation herausgefordert.
Auf der anderen Seite hatte Michael Fried in seiner Polemik Art and Objecthood (1967) in Reaktion auf die Minimal Art kritisiert, dass in der Betonung der Wahrnehmung des Werks durch das Publikum zuvorderst ihre Theatralität liege und dass das künstlerische Objekt selbst in den Hintergrund rücke.[4] Deutlich wird an Frieds Kritik die Zäsur, die zwischen einem modernistischen, objektorientierten Kunstverständnis und einem ‚erweiterten Kunstbegriff‘ liegt, in dem der Kontext, die Wahrnehmung, das Publikum und die Institution selbst als Teil der künstlerischen Strategien mitgedacht wurde. In den USA wurde die neue, nicht objektzentrierte Auffassung von Kunst vielleicht am deutlichsten von Robert Smithson verkörpert, in Deutschland etwa prominent formuliert von Joseph Beuys mit seinem Begriff der ‚sozialen Plastik‘.
Die von Michael Fried (als Kritik) formulierte Eigenschaft der jüngsten Kunstentwicklung, den Kontext und die Rezipient:innen mitzudenken, war eine der entscheidenden Neuerungen der Kunst seit den 1960er Jahren, die sich in der Folge besonders auch in bühnenhaft inszenierten Installationen zeigte, wie etwa bei Louise Bourgeois mit starkem autobiografischen Bezug. Diese ‚Theatralität‘ ist auch prägend . Sowohl Boltanski als auch Kabakov bedienten sich in ihren Installationen persönlicher Dinge, Spuren des Lebens, historischer Objekte als Readymades, benutzten Fotografien, Kleider, Mobiliar, Schachteln, Haare, Devotionalien, Archivalien und vieles andere mehr. Während sich Boltanski dem Thema der Erinnerung an die Shoah durch das Sammeln und Ordnen von persönlichen und gefundenen Erinnerungsstücken wie etwa Fotografien oder Kleider, die er immer wieder benutzte – so in der Arbeit Réserve, Canada, wo er 1988 Kleidung wandfüllend in der Ydessa Hendeles Art Foundation aufhing, später in der monumentalen Installation Personnes von 2010 im Pariser Grand Palais – . Sie haben mehrfach auch Bühnen- und Theaterproduktionen geschaffen und gemeinsam im Rahmen des Festivals Theater der Welt 1999 etwa eine Arbeit über Wagners Ring als Gesamtkunstwerk in einer post-utopischen Kommentierung entwickelt.[5] „Die Theatralik“, so Kabakov, „ist eine spezifische Seite der Installation.“[6]
Ilya Kabakov hielt 1992–1993 fünfzehn Vorlesungen an der Frankfurter Städel-Schule mit dem Titel Über die ‚totale‘ Installation. Zentraler Referenzpunkt seiner Überlegungen sind die Betrachter:innen als Schauspieler:innen, die wie in einem Bühnenstück eine zentrale Rolle spielen: „Die wichtigste handelnde Person in der totalen Installation, das Zentrum, dem alles zugewandt, auf das alles ausgerichtet ist, ist ihr Betrachter – ein ganz besonderer Betrachter. Zunächst ist er das plastische Zentrum jeder totalen Installation in dem Sinn, daß die gesamte Installation nur auf seine Wahrnehmung orientiert ist und an jedem Punkt, mit jedem ihrer Details ausschließlich auf den Eindruck, den sie macht, ausschließlich auf die Reaktion des Betrachters abzielt.“[7] Eine solche zentrale Rolle spielt das Publikum auch in einer weiteren ortsspezifisch entwickelten und bühnenhaft inszenierten Installation: Germania von Hans Haacke im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig 1993. Haackes extrem reduzierte Intervention bestand neben der Gestaltung des Eingangsbereichs aus dem Aufreißen des Marmorbodens im Inneren des Pavillons und der Anbringung des Schriftzugs „Germania“ in der ‚Apsis‘ des zentralen Raums. Die Besucher:innen waren dem anscheinend leeren Innenraum mit dem zerstörten Boden komplett ausgeliefert und mussten sich dazu verhalten. Durch die Leere wurden sie auf die eine oder andere Art aktiviert und durch ihren je eigenen Umgang der Situation integrativer Bestandteil der Installation.
Die hier kursorisch nachgezeichneten Stationen seit den 1960er Jahren finden meines Erachtens ihre Referenzen in künstlerischen Entwicklungen seit den späten 1990er Jahren, als Installationen im Raum sich immersiv ausweiteten und im Spannungsgeflecht von „space, site, curatorship and audience“ gar eine Tendenz zum Spektakulären anzunehmen begannen.[8] Wie zuvor Yayoi Kusama, können zu immersiv arbeitenden Künstler:innen unterschiedliche Generationen und Haltungen gezählt werden wie etwa Fischli & Weiss, Sarah Sze, Rachel Whiteread, Mike Nelson, Philippe Parreno und viele andere mehr. Die vielleicht größte und sicherlich bekannteste künstlerisch-immersive Form der Installationskunst ist Olafur Eliassons The Wheather Project (2003–2004) in der damals neu eingerichteten Turbinenhalle der Tate Modern in London. Die Installationskunst wurde in dieser Zeit zur bestimmenden Kunstform, wie Boris Groys 2003 konstatiert: „Die Installation etabliert sich in unserer Zeit als eine extrem gefräßige Kunstform, die alle anderen traditionellen Kunstformen in sich aufnimmt: gemalte Bilder, Zeichnungen, Fotos, Texte, Objekte und Readymades, Filme oder Tonbänder.“
In dieser Hinsicht sind formal auch bestimmte raumfassende, immersive Interventionen von Thomas Hirschhorn zu sehen, dessen Vorgehensweise und Intention sich aber komplett von den oben genannten unterscheidet, da bei ihm die politische Interaktion und der gemeinsame Prozess mit benachteiligten Gruppen und Menschen im Vordergrund steht (wie beim Bataille Monument während der documenta 11, 2002, oder dem Gramsci Monument, New York, 2013). Hirschhorn überarbeitet ganze Raumfolgen durch Materialassemblagen im Raum mit dem Ziel der Schaffung neuer sozialer und politischer, öffentlicher Orte, Utopien der Ermächtigung und der Kritik an exklusiven Machtstrukturen. „Die Einrichtung des öffentlichen Raums, das Museum der Zukunft“, zeichnet Hirschhorn seine Idee eines neuen Verständnisses von Kunst, Museum, Programmatik und Publikum nach, „braucht eine klare, ernsthafte und nüchterne Logik, die Logik der Wahrheit, des Universalen, der Gerechtigkeit und der Gleichheit. Das ist die Logik, die sich hin zum ‚nicht-exklusiven Publikum‘ öffnet.“[10] Ein solch offenes Museum der Zukunft entwickelte er auch 2018–2019 in der Villa Stuck, als er einen Flügel des Museums komplett neu einrichtete und damit Begegnungsräume schuf. Es entstand ein über drei Stockwerke begehbares Environment, das chaotisch-ruinenhaft anmutete und damit den größtmöglichen Bruch mit der klassischen Museumspräsentation bildete. Es war als Angebot gedacht, in dem das Publikum lesen, arbeiten oder essen konnte, Musik aufführen oder einfach nur ausruhen durfte, ohne Eintritt zahlen oder Rücksicht auf Öffnungszeiten oder andere regulierende Vorgaben nehmen zu müssen. Bücher, Medien, Computer, Drucker, Verstärker und anderes mehr wurden den Besucher:innen zur Verfügung gestellt. Keine Hinweise, keine Anleitung, scheinbar auch keine Aufsichten, das Publikum war sich selbst und der Interaktion mit dem Raum und den anderen überlassen. Das Museum des ‚Künstlerfürsten‘ Stuck wurde durch den Künstler Hirschhorn auf radikale Weise zu einem Ort der nicht-exklusiven Teilhabe und Kommunikation der breiten Bevölkerung und besonders auch prekär lebendender Personen.
Das Installative entsprach häufig der Arbeitsweise der Künstler:innen, aus der persönlichen Beschäftigung komplexe Werke zu schaffen, die in einer in den Ausstellungsraum übertragenen Atelier- oder Bühnensituation die Menschen stärker emotional ergreifen und jede Distanz abbauen sollten, die das Soziale betonten und von den Besucher:innen eine Positionierung einforderten. Während der Biennale von Venedig 2009 zum Beispiel erarbeitete die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles die Installation What else could we talk about?, die den venezianischen Palazzo Soranzo Van Axel mit in Leichenwasser und Blut getränkten Tüchern von Hinrichtungsstätten in Mexiko einkleidete und auch den Boden damit wusch. Sie entwickelte so den am stärksten vorstellbaren Kontrast zu Eleganz und Reichtum eines venezianischen Palazzo, aber auch zum internationalen, zumeist wohlhabenden Kunstpublikum, und entfaltete aus der direkten, undistanzierten Erfahrung dieser Objekte eine hohe Wirksamkeit und vielleicht auch Reflexionsprozesse. Die Besucher:innen waren gezwungen, sich hierzu zu verhalten, und wurden dadurch integrativer Teil der Installation.
Vergleichbar in der installativen Inszenierung eines ganzen Hauses ging auch Gregor Schneider auf der Biennale von 2001 vor, als er im deutschen Pavillon das Haus seiner Eltern in Rheydt (Mönchengladbach) nach- und wiederaufbaute. Seit 1985 arbeitete er in immer wieder unterschiedlichen Konstellationen an diesem Haus u r und baute in einem Werkprozess Räume, Treppen, Auf- und Abgänge in unterschiedlichsten Szenarien in Ausstellungen wieder auf. Es war ein über Jahre währender und scheinbar keinen Endpunkt kennender Prozess – eine unheimliche Dekonstruktion von Heimat. In Venedig wurden 2001 die Besucher beim Toten Haus u r zu einem Gang durch die unterschiedlichen Räume und den Keller eingeladen, insgesamt 24 Räume, die sich verschachtelt durch den deutschen Pavillon zogen. Hier und dort gab es eine Matratze, Gardinen, Ventilatoren, Küchenmöbel oder Müllsäcke. Aber es waren weniger die einzelnen Objekte oder gar Schockmomente wie bei Margolles, die den Eindruck bestimmten, sondern Räume mit authentischen, aber umgebauten Wänden und mit Innenausstattung wie Fenster, Türen und Einbauten. Zwar musste Schneider die Räume den Gegebenheiten vor Ort anpassen, aber sie behielten ihren ganz eigenen Charakter, so dass der deutsche Beitrag zu einer Raufaser-Inszenierung alltäglicher Raumsituationen deutscher Spießigkeit der Nachkriegszeit geriet. In der verwirrenden Anlage und den sich verkleinernden Räumen, die bisweilen als Sackgassen endeten, wurde beim Besuch eine hohe psychische Energie aufgrund der zum Teil klaustrophobischen Zustände frei. Schneider etablierte einen starken zeitlichen, örtlichen und ideellen Kontrast von Stimmungsbildern gefühlter westdeutscher Provinzialität. „Schneiders Totes Haus u r ist in vielerlei Hinsicht lesbar: Es ist Sinnbild und Bildentwurf“, so der damalige Kommissar Udo Kittelmann, „begehbare Geschichte und Psychogramm in einem.“[11] Schneiders Intervention – die das Heimliche und Unheimliche in sich tragen, wie Sigmund Freud es 1919 beschrieben hat – konnte auch als kritischer Kommentar auf die Überheblichkeitsattitüde des deutschen Pavillons und das Kleinbürgertum der deutschen Nachkriegsgesellschaft verstanden werden, wie schon bei Haacke einige Jahre zuvor.
Solche monumentalen Installationen sind häufig nicht allein mit Blick auf ihre emotionale und aktivierende Wirkung auf die Rezeption zu verstehen. Sie sind häufig zugleich in der Verwendung unterschiedlicher Medien und Herangehensweisen auch als Kritik an traditionellen Werkbegriffen und die sie zeigenden Institutionen mit traditionellen Displays, Vermittlungs- und Rezeptionsmustern und exklusiven Zugängen zu sehen, wie sie in den 1970er Jahren bereits von einigen Künstler:innen formuliert wurde. Vor dem Hintergrund der Infragestellung einer wenig selbstreflexiven und eher affirmativen Haltung des Kuratierens ging damit der Wunsch einiger Künstler:innen einher, alle Bereiche ihrer Arbeit stärker selbst zu kontrollieren, bisweilen auch die Rolle von Kurator:innen einzunehmen oder gar gleich eigene Museen zu gründen. Die Institutionskritik durch die Künstler:innen wurde im Laufe der Jahrzehnte von den Institutionen selbst wiederum absorbiert und in das eigene Funktionieren umgesetzt.[12] Die institutionalisierte Dekonstruktion des Museums wurde in den frühen 2000er Jahren zum Beispiel mit dem Palais de Tokyo eingerichtet, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, interdisziplinär das Verhältnis von Künstler:innen, Publikum und Kurator:innen neu zu denken und dabei versuchte, die Offenlegung der Machtverhältnisse zum Programm zu machen. In der Reihe carte blanche wurden Künstler:innen eingeladen, umfassende Installationen für diesen Ort in situ zu entwickeln und dabei die Strukturen des Museums zu hinterfragen, wie etwa Philippe Parreno (2013), Camille Henrot (2017) oder Tomás Saraceno (2018), häufig auch stark partizipativ angelegt, wie bei Thomas Hirschhorn (2014), oder performativ ausgerichtet, wie bei Tino Sehgal (2016).
Zuletzt erhielt im Palais de Tokyo – einem im neoklassizistisch-autoritären Stil für die Weltausstellung 1937 errichteten Bau, der nur temporär als Ausstellungshaus gedacht war – Anne Imhof carte blanche. Zusammen mit Eliza Douglas, die die Musik für die Ausstellung geschrieben hat, und ihrem Team hat Anne Imhof in der 2021 gezeigten Ausstellung Natures mortes nicht nur die regulären Ausstellungsäume installativ, performativ und kuratorisch bespielt, sondern über die verschiedenen Etagen hinweg bis in die Untergeschosse das Publikum hinter die Kulissen geführt. Die Räume wurden zuvor auf Wunsch der Künstlerin im Inneren entkernt; alle nicht sicherheitsrelevanten Wände und Verkleidungen wurden entfernt, so dass der Palais weitgehend in seinem nackten Gerüst dastand. Der Glanz der Weltausstellungsarchitektur verlor sich hinter der technischen „Atmosphäre einer Transitzone“.[13] Ein enger Gang im Labyrinth aus großformatigen Readymade-Glasinstallationen führte die Besucher:innen durch die verschiedenen Etagen bis in die Räume der ehemaligen Cinémathèque française und dann in die ‚Katakomben‘. Ein Setting entstand, das an Radierungen von Piranesi erinnerte, dessen Werke ebenfalls in der Ausstellung gezeigt wurden. Eigene Malereien, Architekturelemente, Objekte, Video- und sich bewegende Soundinstallationen, später dann auch Performances und Konzerte in diesen neu erschlossenen Räumen waren ebenso Programm wie das Zeigen von Werken anderer Künstler:innen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, wie etwa von Delacroix, Picabia, Eva Hesse, Cy Twombly, Wolfgang Tilmans und anderen. Imhof präsentierte Werke aus der Kunstgeschichte, die mit dem Thema Leben, Tod und Vergänglichkeit als memento mori in Verbindung stehen, in einem neuen Kontext jenseits der klassischen musealen Hängung. Sie schuf durch neue, durchlässigere Nachbarschaften eine eigene Verbindungslinie zwischen den Werken. Mit diesen ‚Wahlverwandtschaften‘ stellte sie die universitäre, linear angelegte Darstellung der Kunstgeschichte und damit auch die Deutungshoheit und Machtverhältnisse von Kurator:innen und Künstler:innen in Frage. Mit der Musik und den Performances sowie ihren eigenen Installationen vereinte sich die Ausstellung aber weniger zu einem Gesamtkunstwerk, sondern stellte die jeweiligen Arbeiten in ihrer Eigenheit nebeneinander, „um die Künste auf ekstatische, euphorische Weise zu feiern“, wie die Künstlerin im Interview sagte.[14] Die einzelnen Objekte waren wie Akteure auf einer großen Bühne inszeniert, aber behielten ihre Eigenwilligkeit und ihre Eigenheiten. Sie verschmolzen nicht zu einem großen Ganzen, wie es in den Assemblagen und Environments älterer Künstler:innen durchaus üblich war. In den Konzerten und Performances tauchte das Publikum wie Orpheus in die Unterwelt ein und erlebte die Feier der Künste in einer zwischen Apokalypse und Morgenröte changierenden Monumentalinstallation von „Heterotopien“, wie die Künstlerin die Ausstellung mit Bezug auf Michel Foucault bezeichnete.[15]
Stefan Vogels Arbeit weist mit Blick auf seine künstlerische Haltung und auf formale und inhaltliche Aspekte eine Nähe zu den oben beschriebenen Entwicklungen auf. Fast zeitgleich mit Anne Imhof schafft er in den Kunstsammlungen Chemnitz andere Räume, Heterotopien, und organisiert dort auch Konzerte. Er interveniert immersiv in den bestehenden Räumen, nutzt bühnenhaft-theatrale Elemente wie in dem mit einem Baugerüst hügelhaft inszenierten kleinen Eckraum oder den mit an Theatervorhängen erinnernden Gipstextilien behangenen Oberlichtsaal. Lichtinszenierungen, changierend zwischen der düsteren Atmosphäre des Kellers und der weiten Helligkeit des Oberlichtsaals, folgen einer fein ausgeklügelten Choreografie der Besucher:innenführung. Die Wahl des Ortes, die Auswahl der Werke, Überlegungen zu den kellerartigen Einbauten aus Holz, Stoff und Zement, die Installation von Objekten und Plastiken, Kühlschränken, Regalen, Gläsern, Metallgerüsten und vieles mehr geschieht maßgeblich durch den Künstler und sein Team, in Absprache mit dem Team des Museums. Der Künstler sieht aber nicht nur die Konzeption und Realisierung als Teil seiner künstlerischen Arbeit, sondern auch den Katalog und das Begleitprogramm, für das er während der Aufbau- und Ausstellungszeit andere Künstler:innen in ein Ladenlokal im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg zu Ausstellungen, Konzerten und Lesungen einlud. So wird das Soziale und der Austausch mit dem Publikum jenseits des autoritären Museumsraums zum Teil des Kunstwerks. Vogel bricht mit den traditionellen Arbeitsweisen des Museums. Er ändert die Rollenverteilungen, definiert das Verhältnis von Künstler, Institution und Publikum neu. Er greift in die Museumsarchitektur ein und ändert die klassischen Inszenierungsstrategien durch seine Interventionen, um so das Instrumentarium der Erzeugung kulturellen und symbolischen Kapitals der Institution auf seine Weise zu nutzen und umzuwerten. Das Ergebnis ist ein völlig neuer Erfahrungsraum, eine andere Praxis des Ausstellungsbesuchs, die eine andere Kunstrezeption auch vom Publikum einfordert, so dass seine Ausstellung auch als Selbstermächtigung des Künstlers verstanden werden kann, freilich immer mit Zustimmung der Institution selbst.
Vogels Installationen oder Environments referieren auf die Entwicklung der Kunst seit den 1960er Jahren wie Theatralität, prozessuales, gattungsübergreifendes und interdisziplinäres Arbeiten oder die Ausstellung als „Produktionsstätte“ neuer Kunst, wie er sagt. Das Museum, Ort der Konservierung, wird als Ort künstlerischer Kreativität aktiviert. . Der Oberlichtsaal kann vor diesem Hintergrund etwa als eine Geste der Versöhnung des Künstlers mit der Institution verstanden werden, da er diesen theatralisch durch gipsgetränkte Vorhänge inszeniert, als Hintergrund für seine großformatigen Bilder benutzt und so in seinen musealen Qualitäten wiederum bestätigt. Für die Dauer einer Ausstellung schafft Vogel ein Haus seiner Erinnerung in den Museumsräumen und schreibt die großen künstlerischen Entwicklungen seit der Nachkriegszeit auf ganz eigene Weise weiter.
[1] Gaston Bachelard, Poetik des Raums, Paris 1957 (auf Deutsch: München: Hanser 1975), hier zit. nach Gregor Schneider. Weisse Folter, Ausst.-Kat. Düsseldorf, K20K21 Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen 2007, hrsg. von Julian Heynen, Brigitte Kölle, Köln: König 2007, S. 90–91.
[2] Siehe einführend zur Installationskunst (und auch mit Hinweis auf die genannten Vorläufer) Claire Bishop, Installation Art. A critical history, New York: Routledge 2005; zur situationsbezogenen Kunst siehe u.a. Erika Suderberg (Hrsg.), Space. Site. Intervention. Situating Installation Art, Minneapolis: University of Minneapolis Press 2000.
[3] „The inclusion of the viewer in a multi-perspectival space offers a significant challange to the traditional perspective, with its rhetoric of visual mastry and centring.“ (Bishop 2005 [wie Anm. 2], S. 36.)
[4] Zur Geschichte der ‚nach-objektorientierten‘, kritischen Kunstausstellung siehe zuletzt James Voorhies, Beyond Objecthood. The exhibition as a critical form since 1968, Cambridge: MIT Press 2017.
[5] Boltanski und Kabakov haben auch zusammengearbeitet; sie haben gemeinsam mit Jean Kalman auf Einladung des Festivals Theater der Welt 1999 auf dem Zentrum der ehemaligen Beelitzer Heilstätten eine Arbeit zu Richard Wagner mit dem Titel Der Ring. Fünfter Tag. Der Tag danach entwickelt, „in der das Scheitern ästhetischer Erlösungsprogramme mit dem Scheitern sozialer ‚Gesundungsprogramme‘ und dem Scheitern politischer Ideologie interferieren“ (Barbara Gronau, Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Wilhelm Fink 2010, S. 149).
[6] Ilya und Emilia Kabakov, Installation und Theater, hrsg. von Isabel Sieben, München u.a.O: Prestel 2006, S. 13.
[7] Ilya Kabakov, „Die totale Installation und ihr Betrachter“, in ders., Über die „totale“ Installation, Ostfildern: Cantz 1995, S. 45–50, hier S. 45; vgl. Bishop 2005 [Anm. 2], S. 14.
[8] Anna Moszynska, Sculpture now. London: Thames & Hudson 2013, S. 167. Weiter heißt es: „Installation became [in the 1990s] the predominant form of visual art around this time as artists were prompted to create work on a larger scale that had immediate and dramatic impact.“ (Ebd.)
[9] Boris Groys, Topologie der Kunst, München, Wien: Hanser 2003, S. 26, hier zit. nach Gronau 2010, S. 133.
[10] Thomas Hirschhorn, „Das Museum der Zukunft“, in „Destruction is difficult. Indeed it is as difficult as creation“ (Antonio Gramsci), Publikation anlässlich der Ausstellung Never give up the spot, München, Villa Stuck 2018–2019, hrsg. von Michael Buhrs, Thomas Hirschhorn, Roland Wenniger, München: Villa Stuck 2018, o. S.
[11] Ebd., S. 25.
[12] Siehe zur objektkritischen und relationalen Kunstentwicklung im Ausstellungswesen u.a. James Voorhies, Beyond Objecthood. The exhibition as a critical form since 1968, Cambridge: MIT Press 2017.
[13] Luisa Fink, „Carte blanche à Anne Imhof, natures mortes“, in Kunstforum International 276 (2021), S. 271–273, hier S. 272.
[14] Anne Imhof im Interview mit Vittoria Matarrese, in Natures mortes. Anne Imhof. Palais. Magazine du Palais de Tokyo 31 (2021), S. 41–44, hier S. 42. „Ce n’est pas un Gesamtkunstwerk. C’est un tout composé de multiples parties qui ont toutes leur propre histoire, leur propre place, leur propre devenir et leur propre façon d’être produit. Je les vois plutôt comme des satellites, qui tournent tous dans leur propre sphère. Les uns autour des autres.“ (Ebd.)
[15] „Pendant les performances, les différentes salles deviennent une sorte d’hétérotopie, un espace d’art mélangé à un espace onirique, dans lesquels tout se transforme en décor et en mis-en-scène.“ (Ebd., S. 43)