/ September 10, 2008/ Werkkommentare

Werkkommentare zu

Christo, Bicyclette empaquetée sur galerie de voiture, 1962, Assemblage aus Fahrrad, Kunststoff, Seil, Autodachträger, 130 x 150 x 45 cm, Inv.-Nr. 11221

Christo, Packed Building, Project for The Allied Chemical Building, # 1 Times Square, 1968, Bleistift, Kohle, Aquarell auf Papier, 127 x 91,5 cm, Inv.-Nr. 10047

Christo, Packed Coast, Project for Little Bay, Sydney, Australia, 1969, Bleistift, Wachskreide, Kohle, aquarellierte und handgezeichnete topographische Karte, Klebeband, 38 x 244 cm bzw. 91,5 x 244 cm, zweiteilig, Inv.-Nr. 10048

Christo, Over the River, Project for The Arkansas River, State of Colorado, 1997, Bleistift, Kohle, Pastell, Kreide, Fotografie (von Wolfgang Volz), Karte und Klebeband, 38 x 244 cm bzw. 106,7 x 244 cm, zweiteilig, Inv.-Nr. 10049

Richard Deacon und Bill Woodrow, Lead Astray, 2003/2004, 13-teilige Werkgruppe, verschiedene Materialien und Maße, Inv. 11527-11539

publiziert in Im Blick des Sammlers. Neuerwerbungen der Sammlung Würth von Kirchner und Schlemmer bis Kiefer, Ausst.-Kat., Künzelsau, Museum Würth 2009–2010, hrsg. von Werner Spies, C. Sylvia Weber und Julia Drost unter der Mitarbeit von Gabriela Reuss und Kristine Preuß, Künzelsau, Swiridoff 2009, S. 58–65, 218–227.

 

Christo
Bicyclette empaquetée sur galerie de voiture, 1962

christo11221aDas verpackte Fahrrad auf einem Dachgepäckträger gehört zu den frühen Arbeiten Christos, die er nach seiner Ankunft in Paris 1958 angefertigt hat. Während dieser Zeit interessieren ihn weniger die materielle Beschaffenheit von Kunstwerken, sondern die Arbeit mit vorgefundenen Gegenständen aus seinem unmittelbaren Umfeld und das Verhältnis des Betrachters zu dem Objekt nach seiner künstlerischen Bearbeitung. Ähnliche Interventionen finden sich etwa zeitgleich bei den Nouveaux Réalistes oder den Pop-Art-Künstlern. Allerdings geht es Christo nicht darum, Alltagsgegenstände zu Kunst zu erklären oder deren Benutzung im Alltag auszustellen, sondern, ganz der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys verbunden, um den Wahrnehmungswandel beim Betrachter.

Christo arbeitet bei dem verpackten Fahrrad auf verschiedenen Ebenen des Zeigens und Versteckens. Das Werk besteht aus zwei Objekten, einem verhüllten und einem unverhüllten. Das Fahrrad ist vollständig in die Plastikfolie eingehüllt und zusätzlich von festen Schnüren zusammengebunden, die es gleichzeitig an dem zweiten Teil der Arbeit befestigen, einem weißen Gepäckträger. Das verfremdete Objekt steht in einem funktionalen Zusammenhang mit seinem unverfremdeten Untergrund, seinem buchstäblichen Träger – allerdings in einer irritierenden Zusammenstellung, da es quer darauf liegt und in dieser Anordnung nicht transportiert werden könnte. Die eher organisch anmutende Form des bräunlich verpackten Fahrrads kontrastiert mit dem strengen Rhythmus der parallel laufenden Metallstangen des Trägers und wird dadurch in seinem skulpturalen und räumlichen Charakter noch gestärkt. Die Anordnung beider Objekte unterstreicht den künstlerischen Charakter der gesamten Arbeit und entzieht sie eindeutig dem Gebrauchswert. Christo hat hier zu einer künstlerischen Praxis gefunden, die ihn in den kommenden 50 Jahren beschäftigen soll und die die sich wandelnde Wahrnehmung, eine neue Vorstellung der Objekte durch den künstlerischen Eingriff, zum Gegenstand hat.

Christo
Packed Building, Project for The Allied Chemical Building, # 1 Times Square, 1968

christo10047Das Projekt, das Gebäude der Allied Chemical Company am New Yorker Times Square zu verhüllen, ist Bestandteil eines größeren Überlegungsprozesses, den Christo 1961 als »rohe Verpackung« mit dem Ziel der »Unterbrechung der Benutzung« seiner gesamten Umwelt bezeichnet; er beinhaltet das Verhüllen von Alltagsgegenständen, Möbeln, Autos, aber auch Objekten des öffentlichen Raums wie Skulpturen, Brunnenanlagen oder gar ganzer Gebäude. Das nicht realisierte Projekt von 1968 zum Allied Chemical Building war der vierte und letzte Versuch Christos, in New York ein großes öffentliches Gebäude zu verhüllen.

Die Entwurfszeichnung für dieses Projekt trägt eine Bildunterschrift mit genauen Angaben in Christo-typischer Manier. Auf der Projektskizze, nach einem Foto erstellt, hat Christo mit schnellem Strich seine ersten Ideen der Verhüllung umgesetzt; mit Bleistift und Kohle zeichnet er die Grundstruktur des Straßenblocks und der Häuser nach, die Ausführung in Aquarellfarben unterstreicht den künstlerischen Charakter der Handzeichnung. Präzise ist die topografische Struktur des Umfeldes nachvollziehbar. Das Blickfeld ist bewusst so gewählt, dass sich das Gebäude konturstark vom Hintergrund abhebt. Das Hochhaus erscheint durch diese zeichnerische Intervention fast organisch. Durch den künstlerischen Eingriff Christos durchlebt das Hochhaus für eine kurze Zeit eine Metamorphose hin zu einem fast lebendigen Organismus, der sich deutlich von dem daneben stehenden und durch präzise geometrische Formen gezeichneten Gebäude abhebt. Der kalte und strenge Stahl wird von einem leicht flatternden, bauchigen und ungeometrischen Verband verhüllt, der die Funktion des Gebäudes nicht mehr erkennen lässt. Das Gebäude wird hier zu reiner Form, funktionsfreien Volumina und einer Oberfläche, die nichts von den wirtschaftlichen und architektonischen Zwängen verrät, denen der Mensch in der modernen Großstadt ausgesetzt ist. Christo setzt hier eine ideelle Befreiung des Menschen von diesen Zwängen zeichnerisch um.

 

Christo
Packed Coast, Project for Little Bay, Sydney, Australia, 1969

christo10048Von den Plänen Christos, in den 1960er-Jahren ganze Häuser verpacken zu wollen, war es nicht mehr weit dahin, das Verhüllen ganzer Landstriche zu initiieren. Dem Projekt, einen Teil der australischen Küste einzupacken, war 1968 eine erste Konzeption für die Westküste der USA vorausgegangen. Christo konnte sie aber erst 1969 in Australien umsetzen. Er ließ in der Nähe von Sydney einen ca. 2,4 km langen Küstenstreifen am Pazifischen Ozean mit 92 900 m2 lichtreflektierendem, opakem und synthetischem Erosionsschutzgewebe verhüllen. Diese Intervention in die Küstenlandschaft bedeutete für Christo eine bisher unbekannte logistische Herausforderung und erweiterte seinen Aktionshorizont auf die Natur.

Der Projektentwurf hierzu ist zweigeteilt: Im schmalen oberen Teil ist eine topografische Karte des Küstenstreifens wiedergegeben, der durch einen schwarzen Klebestreifen von dem unteren Teil mit der Projektskizze getrennt ist. Die oben auf der Karte verzeichneten Höhenunterschiede der Küste finden unten ihre Entsprechung auf der perspektivischen Landschaftsdarstellung. Geografische Angaben, Bildinschriften und Gitterlinien verleihen der Zeichnung einen technischen Aspekt.

Nicht die Küste, die nach zehn Wochen wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt wurde, stand im Zentrum von Christos Interesse, sondern die Ideen, die der Mensch mit ihr verbindet. Das Verhüllen des Küstenstreifens denaturalisiert ihn; es macht ihn zum Träger einer künstlichen Vorstellung von Natur. Die Spannungslinien der Küste werden durch die gefalteten Stoffbahnen erkennbar, klarer und schematischer als beim unverhüllten Blick auf die Küste. Kunst und Natur stehen sich hier in gewaltigen Dimensionen gegenüber. Christos Aktion muss vor dem Hintergrund der vornehmlich in den USA aufkommenden Land Art gesehen werden. In einer schroffen Natur interveniert der Mensch und schafft eine monumentale Imitation der Natur, in warmen, das Sonnenlicht reflektierenden Materialien, ganz nach seiner Vorstellungskraft.

 

Christo
Over the River. Project for the Arkansas River, State of Colorado, 1997

christo10049Es gehört seit den frühen 1960er-Jahren zu Christos künstlerischer Eigenheit, die von ihm entwickelten Projekte ohne institutionelle Hilfe, sondern allein durch den Verkauf der im Vorfeld entstandenen Skizzenblätter und Lithografien zu finanzieren. Diese Blätter sind eigenständige Teile der Projekte, bisweilen die einzigen Zeugnisse unrealisierter Arbeiten und wichtige Etappen beim fast schon dialektischen Prozess zwischen dem Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude, den lokalen Verantwortlichen und der öffentlichen Meinung im Vorfeld der Realisierung.

Die vorliegende Collage ist ein solches Zeugnis. Es handelt sich um einen dreiteiligen Entwurf aus dem Jahr 1997; er besteht aus einer kleinen fotografischen Ansicht des Arkansas Rivers, einem Ausschnitt einer topografischen Karte, auf der ein roter Kreis den genauen Standpunkt des Projekts markiert, und einer großen, detailliert ausgeführten Projektskizze.

Auf einer Länge von 64 Kilometern sollen im Jahr 2012 zwischen den an den Fluss nördlich und südlich angrenzenden Gebirgshängen für die Dauer von zwei Wochen Stoffbahnen befestigt werden. Die in einigem Abstand von der Flussoberfläche aufgehängten Bahnen mit fast 11 Kilometer Gesamtlänge werden immer wieder unterbrochen, sodass der Blick auf den darunterliegenden Fluss freigegeben wird und dessen Nutzung weiter garantiert werden kann. Hier zeigt sich die gewollte Interaktion zwischen Betrachter und verpacktem Objekt. Die gerafften Stoffbahnen spiegeln in ihrer fließenden Form die Bewegung des wilden Flusses wider; sie sind selbst im Fluss und erzeugen beim Betrachter, ob er von außen auf die Stoffbahnen schaut oder sich unter ihnen befindet, ein Gefühl der doppelten Bewegung. Sonnendurchflutet, »kontrastreiche Lichtspiele erzeugend«, wie es in der Projektbeschreibung heißt, erschafft der große Abstand zwischen dem lichtdurchlässigen Stoff und dem Fluss einen neuen lichten Raum zwischen den natürlichen Kräfte von Wind und Wasser, so daß die Natur in einem völlig neuen Kontext wahrgenommen wird.

 

Richard Deacon und Bill Woodrow
Lead Astray, 2003/2004

Richard Deacon und Bill Woodrow gehörten in den späten 1970er-Jahren zu jener Generation von jungen Künstlern in London, die der autonomen Plastik eine alltägliche, aber auch performative und partizipative Dimension hinzufügten. Sie verband mit ihren Lehrern die Auseinandersetzung mit verschiedenen Werkstoffen. Durch das Studium linguistischer und philosophischer Theorien in den 1970er-Jahren erweiterte Deacon seinen skulpturalen Diskurs um eine strukturelle, sprachliche Reflexion. Auch Woodrow interessierte sich früh für die narrative Ebene der Skulptur und das Materielle des Alltäglichen, das er verarbeitete und skulptural verfremdete. Mit Deacon, mit dem er sich bereits in den 1970er-Jahren ein Atelier teilte, verbindet ihn früh diese Suche nach Verfremdung der Materialien und nach einer narrativen Neukontextualisierung der Werke.

In den 1990er-Jahren begannen Woodrow und Deacon mit verschiedenen Materialien zu experimentieren, zuerst mit Bronze (Monuments, 1999), dann 2003/04 mit Blei. Bei der 13-teiligen Werkserie Lead Astray kombinieren sie Blei mit in unmittelbarer Nähe zu ihrem Atelier gefundenem Holz und Glas. Mit dem Wortspiel im Titel – Lead heißt übersetzt »Blei«, bildet aber in Verbindung mit astray die Redewendung »in die Irre führen« – taucht man direkt in ihre künstlerische Welt ein, die geistreich die sprachliche Ebene der Kunstbetrachtung reflektiert. Die Titel der einzelnen, in ihrer Größe höchst unterschiedlichen Werke führen dieses Verwirrspiel fort: Isle of Man (I, II, III), Cardigan Island, Brownsea Island, Rough Island, Black Isle, Bait Island, Sheep Island, Puffin Island, Rabbit Island, Holy Island und Ash Island – Namen von britischen Inseln und Halbinseln, die einen inhaltlichen, ikonografischen oder formalen Bezug zu den Werken vorgeben; doch merkt man schnell, dass man durch die Titel auf eine falsche Fährte geführt wird und dass die dadurch evozierten Bildwelten nur sehr wenig mit den Arbeiten gemein haben. Ein mittelalterliches Mauerwerk, Elche, Handwerker in mittelalterlichen Trachten und mit ihren Werkzeugen, Wälder, ein Totenschädel, Becher, Aale und vieles andere mehr präsentieren die beiden Künstler zumeist auf fragilen Sockeln. Die dargestellten Figuren erinnern an die Welt des Mittelalters, in der das Blei, alchemistisches Material (alchemistischer Stoff) par excellence, für die Kunst und die Architektur von besonderer Bedeutung war. Blei, durch seinen niedrigen Schmelzpunkt besonders flexibel, aber sehr haltbar, verbindet die beiden anderen Werkstoffe, die ebenfalls für die Bildhauerei und Baukunst des Mittelalters von größter Wichtigkeit waren, nämlich Holz und Glas. Deacon und Woodrow stechen mit dem Betrachter in See zu einer Reise durch imaginierte Bildwelten, abenteuerliche Handwerkskunst und mittelalterliche Verwirrspiele, irritierend, aber nicht bleiern!

 

Publikation

wuerth2008_christo

 

wuerth2008_deaconwoodrow
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