/ November 29, 2015/ Werkkommentare

Eugène Delacroix
Tod der Ophelia
1838
ÖL auf Leinwand, 38,1 x 45,9 cm
Bez. u. l.: Eug. Delacroix
Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
Inv.-Nr.: 12764

 

Abb. ##: Paul Delaroche, La Jeune Martyre, 1854–1855, Öl auf Leinwand, 170,5 x 148 cm, Paris, Musée du Louvre, Département des Peintures

 

Die literarische Vorlage des Ölgemäldes Der Tod der Ophelia von Eugène Delacroix entstammt William Shakespeares (1564–1616) Drama Hamlet von 1602. Eugène Delacroix greift die siebte Szene aus dem vierten Aufzug heraus, in dem Königin Gertrud, Hamlets Mutter, dem dänischen König Claudius und ihrem Bruder Laerte von Ophelias Ertrinken in einem Fluss berichtet, als der Ast eines Weidenbaumes bricht und sie ins Wasser gezogen wird. Nachdem Ophelias Geliebter Hamlet sie im zurückgewiesen und irrtümlich ihren Vater Polonius getötet hat, verfällt Ophelia dem Wahnsinn und begeht schließlich gebrochenen Herzens Selbstmord. Bereits in Shakespeares Stück wird ihr Tod nicht direkt gezeigt, sondern nur durch Gertruds Todesgesang übermittelt. Delacroix bemühte sich um eine dem Drama ebenbürtige, aber nicht illustrative Bildsprache. Er griff deswegen genau die Textstelle auf, in der die Handlung der Vorstellungskraft des Lesers überlassen bleibt, um mit bildnerischen Mitteln der Dramatik der Szene Ausdruck zu verleihen.

Delacroix, der das Thema in drei unterschiedlichen Versionen malte,[1] zeigt Ophelia in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Mit ihrer Rechten weist sie auf ihre entblößte Brust und ihr gebrochenes Herz. Das offene und wilde Haar spielt auf ihren Wahn, aber auch auf ihre Verführungskünste an. Die weit aufgerissenen, gleichwohl apathisch blickenden Augen und die Physiognomie vermitteln die ganze Traurigkeit ihrer Selbstaufgabe. Die in skizzenhaftem Strich mehr angedeutet als präzise ausgebildete, in gedämpften Grau-, Braun- und Grüntönen fast monochrom gemalte Natur erwidert diese Atmosphäre in einem melancholischen Resonanzraum. Zugleich verleiht Delacroix Ophelia durch den bis zur Hüfte heruntergezogenen Chiton und ihren nach hinten geworfenen Kopf erotische Anklänge. Das Tuch ihres Gewandes ist farblich auf die Natur abgestimmt und in leichten, bewegten Formen nur angedeutet, fast scheint es im Wasser zu verlaufen. Delacroix verzichtet auf den bei Shakespeare genannten Gesang Ophelias zugunsten der Betonung des Hineingleitens in den Fluss: „Doch lange währt’ es nicht, bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken, das arme Kind von ihren Melodien hinunterzogen in den schlamm’gen Tod.“[2] Delacroix’ flüssiger und durchscheinender Farbauftrag verstärkt den Eindruck des transitorischen Zustands Ophelias zwischen Leben und Tod. In seiner offenen Malweise wird ihr Sterben zu einer Selbstaufgabe in der Metamorphose: Sie scheint langsam in der Natur aufzugehen, ihr Leben verliert sich in den Strömungen des Flusses so wie dieser sich zum Horizont hin in der Natur auflöst.

Delacroix’ Ophelia erinnert in ihrer Leidenspose an das Bild einer christlichen Märtyrerin, die Paul Delaroche 1854/55 (Abb. ##) malte. Es ist aber die existenzielle Konfliktsituation Ophelias, die Delacroix an Shakespeares Stoff interessierte, die menschliche Zerrüttung und nicht die vorbildliche Tugend, wie sie in der klassizistischen Kunsttheorie als nachzuahmendes Ideal galt. Delacroix hatte Hamlet zum ersten Mal 1827 in Paris in einer Aufführung gesehen, die ihn zu antiakademischen Lobeshymnen inspirierte: „Die Würde der Akademie erforderte, dass man die Übernahme dieser Art der Darstellung als unvereinbar mit der öffentlichen Moral erklärte. Guter Geschmack, leb wohl!“[3] In seiner Begeisterung für Shakespeares realistische Darstellung menschlicher Konflikte war Delacroix der erste französische Künstler, der diese Szene zu einem eigenständigen Bildmotiv ausgearbeitet hat, ohne das Gemälde jedoch zu Lebzeiten auszustellen; in seiner Hamlet-Serie von 1843 (Kat. ##) veröffentlichte er eine Lithografie nach dem Bild. Delacroix formuliert eine romantische Sicht auf Ophelia, deren wahnsinniger, aber für den Betrachter schöner Tod als sehnsuchtsvolle Erlösung, als Gegenentwurf zu einem von der Vernunft geleiteten Lebensverständnis verstanden wurde. So geriet Ophelia zu einem der großen Leidenschaftsmotive des 19. Jahrhunderts, das auch in der Oper etwa von Hector Berlioz 1842 bearbeitet wurde.

 

FB

 

Lit.: Johnson 1993, Bd. 3, Nr. 264 – Young 2002, S. 279–345 – Best.-Kat. 2003, S. 302–304 –Kindler 2004, S. 150–223 – Ausst.-Kat. Frankfurt 2012, Nr. 44 – Ausst.-Kat. Dresden 2013, S. 191.

 

[1] Die hier gezeigte Münchener Fassung ist die erste von drei Versionen in Öl. Die zweite von 1844 befindet sich im Museum Oskar Reinhart in Winterthur, die dritte von 1853 gehört zusammen mit einem Studienblatt dem Musée du Louvre in Paris. Vor Delacroix hatte sich in England eine Darstellungsweise der Konzentration auf den Tod Ophelias entwickelt, die zum ersten Mal von Johann Heinrich Füßli auf einer Zeichnung von 1778 umgesetzt (London, British Museum) und dann in englischen Shakespeare-Illustrationen weitergeführt wurde.

[2] William Shakespeare, Die Tragödie von Hamlet, Prinz von Dänemark, 1603, 4. Aufzug, 7. Szene.

[3] „Il serait de la dignité de l’Académie de déclarer incompatible avec la morale publique tout importation de ce genre. Adieu le bon goût!“ Delacroix in einem Brief an Victor Hugo, 1827, in Delacroix 1935–1938, Bd. I, S. 198; deutsche Übersetzung zit. nach Kindler 2004, S. 156.

 

Eugène Delacroix

Hamlet möchte dem Geist seines Vaters folgen
1835
Lithografie, 26 x 20,5 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Inv.-Nr.: 547, 2-1912
Delteil 104/II

 

Hamlet lässt Schauspieler die Ermordung seines Vaters nachspielen
1835
Lithografie, 32,3 x 24,6 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Inv.-Nr.: 547,6-1912
Delteil 109/II

 

Der Mord an Polonius
undatiert
Lithografie, 24,1 x 19,2 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Inv.-Nr.: 547,7-1912
Delteil 111/II

 

Hamlet und der Leichnam von Polonius

1835
Lithografie, 25,5 x 17,7 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Inv.-Nr.: 547,10-1912
Delteil 113/II

 

Tod der Ophelia
1843
Lithografie, 25,5 x 18,1 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Inv.-Nr.: 547,10-1912
Delteil 115/II

 

Hamlet und Horatio auf dem Friedhof
1843
Lithografie, 28,3 x 21,4 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Inv.-Nr.: 73-1981
Delteil 116/II

 

Während seiner Karriere hat sich Eugène Delacroix mehrfach mit Williams Shakespeares (1564–1616)  um 1602 verfasster Tragödie von Hamlet, Prinz von Dänemark auseinandergesetzt. Das Drama handelt von der blutigen Vergeltung des jungen Prinzen Hamlet an seinem Onkel Claudius, nachdem dieser seinen Vater, den König von Dänemark, umgebracht hat. Getrieben von seinen Rachegedanken, wird der Hamlet alle Beteiligten, seine Familie, seine Geliebte und schließlich sich selbst ins Unglück stürzen.

Delacroix wurde durch die gefeierten Shakespeare-Aufführungen der englischen Schauspielertruppe von Charles Kemble 1827 in Paris angeregt, das englische Drama in insgesamt 14 Ölbildern, mehreren Zeichnungen, Aquarellen sowie verschiedenen Druckgraphiken aufzugreifen. In der noch jungen, die zeichnerische Handschrift exakt wiedergebenden Lithografietechnik wandte sich Delacroix 1828 in Hamlet und Horatio auf dem Friedhof zum ersten Mal der literarischen Vorlage zu. Zwischen 1834 und 1843 entstand eine Serie von insgesamt 16 Lithografien zu dem Drama, von denen hier sechs ausgewählt wurden. Delacroix spürt in den Lithografien den Emotionen und seelischen Abgründen Hamlets nach und zeigt die verhängnisvollen Konsequenzen seiner Rache für das Leben und die Liebe am dänischen Hofe. In dem Blatt Hamlet möchte dem Geist seines Vaters folgen arbeitet Delacroix Hamlets Verzweiflung in der Mimik und Gestik heraus, da der Geist seines Vater in der Nacht entschwindet und Hamlet, von Horatio und Marcellus zurückgehalten, ihm in die mondbeschienene Nacht folgen will. Die Lithografie Hamlet lässt Schauspieler die Ermordung seines Vaters nachspielen präsentiert Hamlet als gewieften Taktiker. Das große Querformat des Blatts verweist auf einen dramatischen Höhepunkt: Durch die einem Schauspiel im Schauspiel gleich inszenierte und von Hamlet selbst kommentierte Aufführung des Verbrechens erzeugt der Prinz Schuldbewusstsein und Angst bei Claudius und Gertrud; Hamlet legt hier seinen Racheplan offen, dessen tragisches Ende in der skeptischen Pose seines Freundes Horatio bereits anklingt. In den beiden Blättern Der Mord an Polonius und Hamlet und der Leichnam von Polonius zeichnet Delacroix Hamlets verhängnisvolle Entwicklung nach, der während eines Gesprächs mit seiner Mutter Gertrud eine Person hinter dem Vorhang entdeckt und diese für Claudius hält. Wahnhafte Züge kennzeichnen seine Mimik, während er seine Rache in die Tat umsetzt. Irrtümlich tötet er jedoch Ophelias Vater, den Hofkämmerer Polonius. Nachdem er seinen Fehler erkennt und den toten Polonius auf dem Boden erblickt, wird er aber nicht von Reue ergriffen, sondern hat nur Spott für ihn übrig. Der Mord ist zentral für den weiteren Verlauf des Stücks, manifestiert er nicht nur Hamlets Fanatismus, sondern löst auch den Wahnsinn Ophelias aus. Dem Freitod von Hamlets Geliebten aus Verzweiflung ob der Ermordung ihres Vater und Hamlets Abweisung ihrer Liebe widmet Delacroix das folgende Blatt, das in der lockeren, malerischen Strichführung und in der Komposition dem Ölgemälde Tod der Ophelia folgt (Kat. ##). Auch die letzte hier ausgewählte Darstellung Hamlet und Horatio auf dem Friedhof von 1843 lehnt sich an die Komposition eines Ölgemäldes von Delacroix an (Kat. ##). Die durch Diagonalen, Körperhaltung und kontrastreiche Hell-Dunkel-Abstufungen dramatisch angelegte Szene zeigt Hamlet zusammen mit seinem Freund Horatio vor dem für Ophelia ausgehobenen Grab. Einer der beiden Totengräber hält den Schädel des Hofnarren Yorrick in die Höhe, den Hamlet in seiner Kindheit gut kannte. In einem raffinierten Geflecht aus gegenseitigen Blicken und Gesten beginnt Hamlet seinen Monolog über das Leben und den Tod: „Ach armer Yorick! – Ich kannte ihn, Horatio; ein Bursch von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen. Er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen, und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor!“[1] Delacroix, den hier offensichtlich die von Hamlet evozierte Einbildungskraft zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Stoff inspirierte, konzentriert sich in dem Blatt auf das letzte Innehalten vor dem Schlussakt, in dem der Tod als Leitmotiv des Stückes offensichtlich wird. Über die Funktion des Memento mori hinaus spiegelt der Totenkopf in der fiktiven Zwiesprache mit Hamlet das Närrische des rachedürstenden Prinzen und lässt das tragische Ende des Protagonisten erahnen.

Mit der bühnenhaften Ausstattung der Szenen und den historisierenden Renaissancekostümen im elisabethanischen Stile adaptiert Delacroix die theatralische Inszenierung des Stücks. Dies erlaubt ihm die Konzentration auf eine realistische Charakterisierung der Personen, die Delacroix an Shakespeares Theater schätzte: „Shakespeare hat eine solche Wirklichkeitsstärke, dass wir seine Figuren annehmen als seien sie das Portrait von Menschen, die wir gekannt haben.“[2] Er legt keinen Wert auf die Repräsentation des gesamten Stoffes und illustriert nicht alle Akte des Dramas, sondern trifft eine Auswahl von Schlüsselszenen, die ihm besonders aussagefähig für die unterschiedlichen emotionalen Seelenzustände des Protagonisten erscheinen – mal traurig und niedergeschlagen, mal arrogant und verachtend, dann wieder zögernd und gefühlvoll, immer wieder drohend und gewalttätig.

Wegen der fehlenden narrativen Kohärenz und ihrer zeichnerischer und kompositorischer Schwächen wurde die erste Ausgabe von 1843 mit nur 13 Blättern kritisiert: „Der Hamlet von M. E. Delacroix ist kein Werk“, so der anonyme Autor einer vernichtenden Rezension in der Zeitschrift L’Artiste, „es ist der Irrtum eines geistreichen Mannes, dem es völlig an Takt und Urteilsvermögen fehlt […].“[3] Nach der für Delacroix enttäuschenden Aufnahme der Serie zu Lebzeiten wurde die zweite, posthume Ausgabe mit 16 Blättern hingegen positiv rezipiert und die Konzentration auf die Glaubwürdigkeit der unterschiedlichen Gemütszustände der Protagonisten hervorgehoben. Aufgrund der Auswahl der Szenen mit der größten emotionalen Intensität habe Delacroix das Stück einem größeren Publikum lebendig vermitteln können, wie der Literaturkritiker Paul de Saint-Victor 1864 meinte: „Lesen Sie erneut den Hamlet in Gegenüberstellung mit den Lithografien von Eugène Delacroix, dem Drama wird neues Leben eingehaucht und es wird in einem neuen Licht erstrahlen.“[4]

 

FB

 

Lit.: L’Artiste 1843, Bd. 4, S. 145–150 – Fischer 1963, S. 61–84 – Verdier 1964,S. 37–45 – Edenbaum 1967, S. 340–351 – Sérullaz / Bonnefoy 1993 – Jobert 1998, S. 278–283 – Young 2002, S. 251–267 et passim – Ausst.-Kat. Karlsruhe 2003, S. 236–247.

 

[1] William Shakespeare, Die Tragödie von Hamlet, Prinz von Dänemark, 1603, 5. Aufzug, 1. Szene.

[2] „Shakespeare possède une telle puissance de réalité qu’il nous fait adopter son personnage comme si c’était le portrait d’un homme que nous eussions connu.” Delacroix 2009, Bd. 1, S. 893.

[3] „L’Hamlet de M. E. Delacroix n’est donc pas une œuvre, c’est une erreur d’un homme d’esprit qui a manqué complètement de tact et de jugement.“ L’Artiste 1843, Bd. 4, S. 150.

[4] „Relisez Hamlet en le confrontant avec les lithographies d’Eugène Delacroix, le drame prendra vie et souffle et s’illuminera de lueurs nouvelles.“ Paul de Saint-Victor in La Presse, 31.5.1864; hier zit. nach Sérullaz / Bonnefoy 1993, S. 11.)

 

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