Lovis Corinth, Geschlachteter Ochse, 1905, Werkverzeichnis Nr. 318
Lovis Corinth, Maschinenhalle in der AEG, Berlin, 1908, Werkverzeichnis Nr. 366
Lovis Corinth, Die Gefangenen, 1909, Werkverzeichnis Nr. 388
Lovis Corinth, Flora, 1923, Werkverzeichnis Nr. 893a
Lovis Corinth, Schloßfreiheit in Berlin, 1923, Werkverzeichnis Nr. 894
für den Ausst.-Kat. Lovis Corinth und die Geburt der Moderne. Publiziert wurden nur die Kommentare zu »Geschlachteter Ochse« und »Schloßfreiheit«, Nr. 57 und Nr. 74, in Lovis Corinth, Ausst.-Kat., Paris, Musée d’Orsay, Leipzig, Museum der bildenden Künste und Regensburg, Kunstforum Ostdeutsche Galerie 2008–2009; auf Französisch: hrsg. von Serge Lemoine und Marie-Amélie zu Salm-Salm, Paris, Edition de la Réunion des Musées nationaux 2008; auf Deutsch: hrsg. von Ulrike Lorenz, Marie-Amélie zu Salm-Salm und Hans-Werner Schmidt, Bielefeld, Kerber Art 2008, ISBN 978-3-86678-177-1.
Geschlachteter Ochse, 1905
Lovis Corinth
Geschlachteter Ochse, 1905
Öl auf Leinwand, 160,5×110,5cm
sign. Lovis Corinth/Blankenburg i. H. 1905
Regensburg, Museum Ostdeutsche Galerie, Berend-Corinth Nr. 318
Corinth malte auf dem 1905 entstandenen Bild des Geschlachteten Ochsen den Kadaver eines aufgeschnittenen und kopflosen Ochsen, der an den Rümpfen seiner beiden Hinterklauen an der Decke aufgehängt wurde. Das Fell ist ihm bereits zum Teil abgezogen worden und hängt wie ein Umhang von oben herab. Im Hintergrund rechts hängt ein weiteres Kadaver, wie auf einer Kleiderstange aufgereiht, als Verweis auf den professionellen Charakter des Schlachtens. Auf der linken Seite sieht man etwas versetzt einen Schlachter bei der Verrichtung seines Gewerbes; einen Kübel, vielleicht voller Blut, tragend dreht er sich auf dem Bild aus dem Geschehen heraus. Seine Person und seine Handlung sind hier wenig deutlich dargestellt, er spielt im Hintergrund eine untergeordnete Rolle. Nein, es ist der leblose Leib des Ochsen, der das Bild dominiert: zentriert gemalt, nimmt er die unteren drei Viertel der Leinwand ein. Die Palette des Kadavers ist in roten und weißen, fleischfarbenen Farbtönen gehalten. Der Strich ist schnell und pastos, als gelte es, rasch diesen einen Augenblick festzuhalten, bevor der Körper in Einzelteile zerlegt wird. Der Hintergrund, die Wand vor der sich andere von der Decke hängende Instrumente des Todes wie etwa der Metzgerhaken dunkel absetzen, wird von Schraffuren und schnell gezogenen, breiten Pinselstrichen in bräunlichen und gräulichen Farben gebildet, die vereinzelt das Lokalkolorit des Kadavers wieder aufnehmen. Hell erheben sich die Fleischmassen vor dem dunklen Hintergrund. Der Raum und der Schlachter bleiben diffus im Hintergrund, alle Aufmerksamkeit gilt der Ausarbeitung des sinnlichen Fleisches durch Farbauftrag und Duktus. Mit schwungvollen Strichen malt Corinth den Kadaver, umkreist die Fleischmassen und streichelt sie fast zärtlich mit seinem Pinsel.
Das Thema des Schlachtens gehört zu den wiederkehrenden Motiven in Corinths Werk, insgesamt vierzehn Mal hat er es gemalt. Es mögen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend gewesen sein, die ihn an diesem Thema reizten, bekannterweise führte sein Vater eine Gerberei im heimischen Tapiau. Corinth selber verweist in seinen Legenden aus dem Künstlerleben von 1908 darauf, daß sein Schwager Schlachter in Königsberg war und er ihn dort öfters besuchte. Er arbeitet hier aber nicht traumatisierende Jugenderfahrungen malerisch auf, sondern ist vielmehr dem Reiz des Fleisches erlegen. In seinen Legenden klingt die Faszination für das Fleischliche an: „Weißer Dampf rauchte aus den aufgebrochenen Leibern der Tiere. Eingeweide, rote, violette und perlmuttfarbige, hingen an den eisernen Pfeilern. Das wollte Heinrich [i.e. Corinth] alles malen.“1 Mehrere Variationen des Sujets hatte er bereits 1892 in München angefertigt und nahm auch in den folgenden Jahren dieses Thema wieder auf. So widmet er sich ihm etwa auf dem Bild Im Schlachthaus von 1893, auf dem durch eine höhere Personenanzahl der Akt des Schlachtens stärker in den Vordergrund gerückt wurde. Mindestens vier Männer zerschneiden und zerreißen auf diesem Bild kraftvoll, ja erregt den Ochsen. Anders auf dem 1905 gemalten Bild, wo er dieses damals aufgrund seiner schroffen Offenheit als revolutionär empfundene Sujet etwas zurückgenommen hat und sich weniger auf das Schlachten als auf mehr auf den Kadaver konzentrierte. 1905 mildert er also das Thema ab und wendet sich stärker der Körperlichkeit zu.
Im Sujet und der Bildstruktur nimmt es Bezug zu älteren bekannten Bildern wie Rembrandts Geschlachteter Ochse aus dem Jahr 1655. Corinth hatte Rembrandts Ochsen während seiner Studienzeit in Paris im Louvre gesehen und war offensichtlich davon schwer beeindruckt, wiederholt er doch zuerst in einem 1892 und zum zweiten Mal in dem 1905 gemalten Bild Rembrandts Komposition des Kadavers und auch dessen fleischliche Wirkung durch die pastose Malweise. Er teilt mit dem von ihm geschätzten Alten Meister die Bewunderung der tierischen Anatomie durch die offene und schonungslose Darstellung des geweideten Fleisches. Durch die Orientierung an Rembrandts Werk stellt er sich selbst zugleich in eine kunsthistorische Traditionslinie, die den für Corinth hier nicht unbedingt zum Nachteil gereichenden Vergleich mit dem holländischen Meister herausfordert.
In dem Gemälde mögen neben den Bezügen zu den großen Meistern auch Elemente des Realismus nachklingen, wie Corinth sie möglicherweise in Paris kennengelernt hatte. Auch wenn er in seiner Pariser Zeit eher der akademischen Malerei und den Alten Meistern zugeneigt war, mögen die Arbeiten Millets oder auch Courbets wie bei seinem Berliner Malerkollegen Liebermann auch bei Corinth ihren realistisch-naturalistischen Nachklang gehabt haben. In seinen Münchener Studienjahren hatte er über die von ihm geschätzten Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner einen Nachhall Courbets kennengelernt. Millet hatte er in München bei mehreren Ausstellungen studieren können. Die Arbeitsumstände im Schlachthaus, die Schlachter selber stehen bei den Bildern aus den 1890er Jahren jedenfalls fast wie bei einer Reportage sehr viel stärker im Mittelpunkt seines Interesses, ohne daß man allerdings bei Corinth von einem realistischen Maler sprechen könnte. Man fühlt sich eher an das Urteil Meier-Graefes erinnert: „Er ist Realist ohne Realismus“.2
Dieses Nachspüren von ‚realistischen Sujets‘ wird in einigen Versionen der Schlachthofbilder deutlich; in der Version von 1905 jedoch, noch intensiver dann in seinem Bild Der Fleischerladen von 1913, haben ihn weniger die sozialen Bedingungen, sondern eher die Lust an der Farbe und Form des Fleisches gereizt. Corinth malte hier weder Stilleben noch Genrebild, sondern eine spezielle Art der Allegorie auf die menschliche Fleischeslust. Rot-warm öffnet er mit dem Pinsel den Leib in zwei und durchformt jeden seiner Gliedmaßen, konturiert und füllt mit Leben das tote, weiße Fleisch. Der animalische Akt gerät hier zur Zelebrierung des Sinnlichen! Bei diesem Bild will man so gar nicht der Meinung Paul Westheims sein, der 1926 anläßlich der Corinth-Gedächtnisausstellung nach dessen Tod schrieb von der „Rohheit und Brutalität, mit der ‚der Ostpreuße‘ in Blut und Fleischmassen schwelgte“.3
Maschinenhalle in der AEG, Berlin, 1908
Lovis Corinth
Maschinenhalle in der AEG, Berlin, 1908
Öl, Papier auf Leinwand, 61x93cm
sign. CL 1908 in der A. E. G.
Bes. H. Hartmann, Berlin/unbekannt
Die Maschinenhalle in der Allgemeinen Electricitäts Gesellschaft Berlin gehört im Œuvre Corinths zu den wenigen Industrie- und Großstadtansichten. Sein Umzug nach Berlin 1901 wurde durch ein offeneres künstlerisches Klima entschieden, anfangs weniger durch eine besondere Begeisterung für die Großstadt. Ab dann jedoch sollte Berlin seine Stadt werden, die Stadt, die er nur noch für Reisen und später für sein Landhaus am Walchensee verlassen sollte. Er wirkt, wie Meier-Graefe schreibt, vielmehr wie „ein Urmensch unter modischen Gaffern“.4 Auch wenn sich Corinth dann ganz dieser Stadt hingibt, verfällt er ihr nicht. Die Ansichten Berlins wie das Bild Unter den Linden oder Berliner Schloßfreiheit sind Ausnahmen, eher wendet er sich bei Stadtansichten den pittoresken Orten wie dem Neuen See im Berliner Tiergarten zu. Auch das Bild der AEG-Maschinenhalle ist von seinem industriellen Sujet her im Schaffen Corinths ein Solitär.
Corinth malt hier den Blick in eine Halle der AEG Maschinenfabrik in Berlin-Wedding.5 Nichts strahlt hier Ruhe aus, alles scheint in Bewegung zu sein, Energie zu erzeugen, Wärme zu versprühen. Die Vielfalt an Formen und die perspektivischen Diagonalen haben das Gleichmäßige und Horizontale verdrängt. Hier herrscht Aufbruchstimmung! Das große Rad auf der linken Seite zieht den Blick des Betrachters als erstes auf sich, die pastosen Pinselstriche nehmen den nach unten und dann wieder in den Saal ziehenden Drehmoment auf. Der Blick wird förmlich in den Raum gezogen. Folgt man der Achse des Rades mit den Augen bis zur Turbine mit seinen Isolatoren und Kabeln nähert man sich der Eisenkonstruktion der Maschinenhalle. Große Stahlträger erstrecken sich diagonal in den Raum, der kein Ende zu nehmen scheint. Im Hintergrund entdeckt man ähnliche Anlagen, neue Maschinenteile, die sich in ihrem industriellen Charakter ständig wiederholen. Langsam lichten sich die Formen, man sieht weitere Räder und Stahlteile, weitere Kabel und Kästen, deren genauen Zweck man nicht kennt, die aber nach großer Technik aussehen: AEG, der Stolz der deutschen Industrie! Dennoch ist die Bewunderung, oder doch eher Verwunderung, die Corinth hier vermittelt, keine pathetische, keine reichsdeutsche Industriepropaganda durch Weite und Überblick, sondern eher ein intimer Blick in das komplizierte Geflecht der modernen Technik. Corinth malte hier ein Bild, das eher wie ein zufälliger Blick im Vorbeigehen entstanden ist, ein Blick, der sich nicht mehr von der wundervollen Vielfalt lösen kann, die er selber dann doch nicht mehr im Detail versteht.
Das Gemälde bleibt vom Sujet her eine Ausnahme im Schaffen Corinths. Zwar hatte er Behrens, dem Hausarchitekten der AEG, in München in der Secession kennengelernt, doch besaßen die technisch hoch komplexen Anlagen der zweiten industriellen Revolution offenbar nur wenig künstlerischen Reiz für den ostpreußischen Maler. Das Bild der AEG vermittelt ein Unbehagen des Malers gegenüber dieser Industrie und Technik. Anders als Menzel, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch meisterhaft die Anfänge und die Atmosphäre der Industrietechnik malerisch umzusetzen vermochte, scheint sich Corinth hier ein wenig auf der Suche nach künstlerischer Behandlung zu verlieren. Vergleicht man das Bild mit Industrie-Fotografien der Zeit, scheint diese dem Sujet her gerechter zu werden. Corinths schneller Strich und seine ungeduldige Komposition, die potentiell expressive Qualität seiner Malerei, die gerade den Bildnissen eine besondere Intensität verleihen, vermögen hier nur unzureichend dem technischen Sujet gerecht zu werden, das in der repetitiven Monotonie geometrischer Formen seine ganze industrielle Schönheit entfalten könnte.
Corinth bleibt hier nicht als intensiver Maler der industriellen Großstadt in Erinnerung. Nein, dies ist nicht seine Welt, und es bleibt zu vermuten, daß er das Bild für den Freund der Familie und AEG-Mitarbeiter Hartmann allein als Geschenk, als freundliche Geste malte, und nicht, weil ihn das Sujet faszinierte. Dennoch bleibt Corinths Blick auf die technischen Apparaturen in Erinnerung als ein ursprünglicher, als ein menschlicher Blick auf eine Welt, die sich auch dem heutigen Betrachter in seiner industriellen Dichte nicht zu erschließen mag.
Die Gefangenen, 1909
Lovis Corinth
Die Gefangenen, 1909
Öl auf Leinwand, 148x200cm
sign. Lovis Corinth 1909 (in Berlin, Händelstraße, gemalt)
Danzig, Städtische Kunstsammlung
Sicherlich gehört das Gemälde Die Gefangen von 1909 zu den Bildern Corinths, die aufgrund ihrer figurativ-narrativen Malweise bereits einige Zeitgenossen als unzeitgemäß irritierten, die aber auch eine innere Wesensverwandschaft mit späteren Werken der Neuen Sachlichkeit aufweisen. Der Titel verweist auf die innere Beziehung von zwei nackten Menschen auf einem Bett, die (nicht nur) durch eine starke Eisenkette aneinander verbunden sind. Es wurde unter dem Titel Männlicher und weiblicher Akt 1909 im Glaspalast in München ausgestellt und 1914 von Corinth ans Danziger Stadtmuseum verkauft.
Auf der linken Seite sitzt auf einem Bett ein kräftiger Mann mit Schnäuzer, der seinen rechten Arm auf seinen Oberschenkel mit einer energischen Geste aufstützt und rechts an dem Betrachter willensstark, fast wütend vorbeischaut. Sein Haupt hebt sich im Hintergrund von einem dunklen Tuch ab, das über seinem Kopf hängt und diesem durch den Hell-Dunkel-Kontrast eine besondere Strahlkraft verleiht. Die linke Hand, an dessen Gelenk die Kette angebracht ist, ist zu einer Faust zusammengezogen und legt sich schützend oder vielleicht auch verheimlichend vor seine Scham. Ihm zur Linken liegt aufgestützt eine Frau, ebenfalls nackt, und schmiegt sich, auf ihrer rechten Seite liegend, wie eine Katze an den Mann. Sie hält ihren Kopf aufgestützt in einer denkerischen Pose auf der rechten Hand und blickt verführerisch aus dem Bild heraus, in der gleichen Blickrichtung wie der Mann. Beide scheinen etwas zu beobachten, das hinter dem Betrachter liegt. – Man wäre fast geneigt, sich umzudrehen und nachzuschauen! Da das Bild mit „in Berlin, Händelstraße, gemalt“ bezeichnet wurde, ist davon auszugehen, daß es sich bei den Dargestellten um Lovis Corinth und seine Frau Charlotte Berend im Atelier Corinths ebendort handelt. Das Tuch, das der Mann auf dem Kopf trägt, und seine Pose mit dem starren Blick erinnern stark an das ebenfalls 1909 gemalte Selbstbildnis als Halbakt mit rotem Kopftuch, so daß es sich hier mit großer Sicherheit um ein Doppelportrait als Akt der beiden Corinths handelt.
Corinth folgt hier auf den ersten Blick ganz dem konservativen Geschlechterverhältnis: Der Mann ist aufrecht, (willens-) stark und muskulös dargestellt, die Frau hingegen liegend und weich, in ihrem Blick verträumt und geheimnisvoll. Die beiden Menschen könnten das Verhältnis von Corinth zu seiner Frau widerspiegeln, man mag die Kette als Ketten der Ehe verstehen oder auch um eine besondere erotische Beziehung zwischen den beiden Menschen. Corinth war besonders in den Jahren um die Jahrhundertwende bekannt für seine Aktdarstellungen und seine Historienbilder mit starken erotischen Konnotationen wie sein fünf Jahre zuvor gemaltes Bild Salome mit dem Haupt des Johannes. Vor allem seine Frauenkörper verrieten die ganze Leidenschaft, die er in dem Prozeß des Malens für diese entwickelte. Er hat sich nie hinter einer vorgeschobenen Moral versteckt und fand in Berlin wohl die Freizügigkeit, die im München der 1890er Jahre durch die konservativen Machthaber verloren gegangen war. Der Akt des Malens war für Corinth immer auch Leidenschaft. „Das Gefühlsleben der Menschen ist in dem Drange der Geschlechtsberührung zu einander ein weit schwungvolleres“, schreibt er 1923, „wie die Musik in den Menschen und in dem Gesange der Vögel eigentlich nur auf Geschlechtsempfindung beruhet, so ist auch die Malerei rein sinnlicher Ausdruck. Ich kann wohl sagen, daß die Erotik das Geistvollste und am schwersten zu bewältigendste sein wird als rein malerischer Begriff.“6
Diese erotische Beziehung zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen dem Maler und dem Gemalten ist auch das Thema der Gefangenen. Die beiden nackten Menschen verraten gegensätzliche menschliche Qualitäten wie Wut und Sinnlichkeit, Kraft und Geschmeidigkeit. und begründen die Qualität des Bildes als Portrait von zwei leidenschaftlich miteinander verketteten Menschen. Die Kette ergänzt die Akt-Darstellung um ein narratives Element, die beiden Personen erhalten ein Attribut und eine Rolle. Die Kette muß jedoch nicht als Versuch der symbolistischen Aufladung des Aktbildes verstanden werden, sondern kann auch als ein konkreter Hinweis auf das Leben der Dargestellten gesehen werden: Verbunden sind sie nicht allein durch das Band der Ehe und ihre gegenseitige Lust, sondern durch die Liebe zur Kunst. Schließlich war es Charlotte Berend, die den an Depressionen neigenden Künstler durch Arrangements und Rollenspiele immer wieder zur Kunst zurückführte. Auf den Gefangenen ist sie mit Corinth in ein leidenschaftliches Arrangement geschlüpft, sie übernimmt die Rolle der Verführerin, er mimt den Ausdruckshelden mit dem Willen zur Macht.
Die durch das Rollenspiel mit Lust eingenommene Entfremdung des Künstlers von sich selbst mag ihm geholfen haben, sich gegenüber der eigenen Person und der Umwelt wieder zu behaupten. Man könnte die Ketten, die so prominent auch bei dem 1912 nach seinem Schlaganfall entstanden Bild des Geblendeten Simson die ganze innere Auseinandersetzung des Künstlers mit sich und seiner Umwelt verkörpern, auch auf den Gefangen als Ausdruck der Stärke und der Individualität des Künstlers verstehen. Auch hier sind die Ketten weniger ein Zeichen der Unterdrückung als vielmehr ein Zeugnis der eigenen Kraft und Willensanstrengung. „Ich konnte alles, weil ich es wollte!“, proklamiert Corinth 1923 im Rückblick auf sein Leben.7 Auf den Gefangenen sind keine Unterdrückten und Leidenden dargestellt, sondern selbstbewußte Personen, die sich ihre Lebensführung in ihrer Liebe füreinander selbst ausgewählt haben.
Flora, 1923
Lovis Corinth
Flora, 1923
Öl auf Holz, 128x108cm
sign. Lovis Corinth 1923
Hamburg, Kunsthalle
Das Bildnis seiner Tochter Wilhelmine als Flora gehörte zu den knapp 300 von den Nationalsozialisten als entartet aus den öffentlichen Sammlungen beschlagnahmten Gemälden Corinths. Er malte es 1923 in seinem Berliner Atelier in der Klopstockstraße, wo er seit seinem Umzug nach Berlin im Jahr 1901 lebte und eine Malschule unterhielt. Das Bildnis der damals zwölf Jahre alten Tochter ist mit einem bewegten Duktus mit klaren, hellen Farben gemalt, weit entfernt von den „kranken, obskuren Schmierereien“, die der Organisator der NS-Ausstellung zur Entarteten Kunst, Adolf Ziegler im Spätwerk Corinths gesehen haben wollte.8 Im Gegenteil, es gehörte zu den wichtigsten Portraits Corinths in seinem Spätwerk und ist „eines der schönsten Gemälde“, die Corinth seiner Tochter widmete, wie sich Charlotte Berend später erinnert.9 Ludwig Justi erwarb es 1923 für die Nationalgalerie und präsentierte es, bevor es von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, bis 1936 im Kronprinzenpalais.
Wilhelmine oder Mine, wie sie von ihren Eltern genannt wurde, mußte wie ihre Mutter häufig für Corinth Modell stehen. Immer wieder malte er die 1909 geborene Tochter, häufig auch in Verbindung mit Blumen, so etwa auf dem Gemälde Mädchen mit Blumen von 1920. Anders als auf dem 1919 entstandenen und ebenfalls mit Flora betitelten Bildnis ihrer Mutter, in dem diese mit großem Hut und einem großen Blumenstrauß sich eher kontemplativ in den Duft einer Blume versinkt, drehen sich hier die Pinselstriche wie in einem Wirbelsturm um das Epizentrum des Bildes, dem Körper und das Gesicht Wilhelmines. Ihr leicht gedrehter Körper vermittelt Bewegung, das Lächeln auf ihren Lippen ebenso wie ihre Augen Freundlichkeit. Die Palette ist aufgehellt, klare rote, blaue, gelbe und grüne Farben vermitteln die mit dem Frühlingsbeginn verbundenen Vorstellungen von Frische und Lebendigkeit.
Die junge Tochter versprüht mit den sie umgebenden Blumen die ganze Lebensfreude eines jungen Mädchens, die den alternden Vater auch in den von ihm als düster empfundenen Nachkriegszeiten der Weimarer Republik noch Kraft und künstlerische Inspiration gab. Der Titel Flora verweist auf die Rolle der Tochter als antike Göttin der Natur und des Blühenden mit den um sie herum wirbelnden Blumen. Die Blumen sind im Stilleben, die in Corinths Œuvre verstärkt seit dem Ersten Weltkrieg gemalt wurden, ein Symbol der Vanitas, des Vergänglichen. Sie sind hier nicht nur Attribut der antiken Göttin, sondern markieren gleichsam das Gegensatzpaar zwischen dem Leben des jungen Mädchens und den düsteren, der Melancholie und dem Tod zugewandten Gedanken des alternden Malers. Ganz in der Tradition der niederländischen Blumenstilleben sind sich hier Schönheit und Vergänglichkeit ganz nah.
Corinth, der die Kunst älterer Meister als ebenso aktuell empfand wie die seiner Zeitgenossen und der sich immer als Teil einer größeren künstlerischen Entwicklung sah, war nicht nur stark geprägt von der holländisch-flämischen Malerei, die er besonders intensiv während seines Aufenthalts in Antwerpen kennengelernt hatte. Hier stellt er sich in eine andere kunsthistorische Traditionslinie, nämlich mit dem Portrait Tizians von seiner Tochter Lavinia aus dem Jahr 1555, das in der Berliner Gemäldegalerie hängt.10 Corinth, ein in der Kunstgeschichte klassisches Thema aus Ovids Metamorphosen aufnehmend, übersetzt das Kompositionsschema und die Farbgebung Tizians hier in eine zeitgemäße, sehr viel stärker vom sinnlichen Eindruck und vom Einfangen des Augenblicks geprägte Fassung. Er zeigt hier, wie zeitgemäß die antiken Themen und die Alten Meister sein konnten, ohne in ein einfaches Nachahmen zu verfallen.
Die kräftigen Farben und der Malduktus des Bildes, die zahlreichen, schnellen Pinselstriche, die das Bild vor allem außerhalb des Gesichtsfeldes zusammensetzen und die die Platte mit den Früchten in reine Farbflecken auflösen, wurden später als erste Ansätze eines Tachismus gesehen. Informell sind einige späte Bilder Corinths, wie zum Beispiel sehr stark auf dem Bild Der Hase von 1921. Es wäre jedoch anachronistisch, Corinth, wie nach dem Krieg geschehen, in eine solche Traditionslinie zu stellen, bleibt er doch bis heute ein in Frankreich nur wenig bekannter und rezipierter Künstler. Man mag im Duktus eher Corinths Bewunderung für Frans Hals wiederfinden, den er in Antwerpen ausführlich studiert hatte und für den er kurz vor seinem Tod nach Holland gereist war.
Nach dem Besuch der Corinth-Ausstellung in der Nationalgalerie 1923, dem Entstehungsjahr des Bildes, schrieb ihm Meier-Graefe in einem Brief: „Das Geschmäckliche hat bei einem so bildhaften Künstler wie Ihnen nichts mehr zu sagen. Es riecht vielleicht besser in Paris, aber ich pfeife auf jedes Parfüm, wenn ich soviel überströmende Natur empfange.“11 Es ist dieses ganz eigene Berliner Parfüm, voller Blumen und Jugend, das man auch heute noch bei dem Bild der jungen Flora intensiv mit den Augen riechen kann!12
Schloßfreiheit in Berlin, 1923
Lovis Corinth
Schloßfreiheit in Berlin, 1923
Öl auf Leinwand, 104x79cm
sign. Lovis Corinth 1923
Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie, Inv. Nr. B 123
Wie im Vorbeifahren, in einem Rückblick aus der Bewegung heraus, malte Corinth 1923 den in seiner vertikalen Komposition leicht schief gesetzten Blick von der Darmstädter Bank auf die Schloßfreiheit und das Berliner Schloß. Gewaltig dreht sich der Schloßbau vom Betrachter weg, vor ihm liegt das Nationaldenkmal von Reinhold Begas, das 1896 für den 1891 verstorbenen König Friedrich I. auf dem Areal der von Steuern befreiten und für das Monument abgerissenen Häuserzeile der Schloßfreiheit steht. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal schiebt sich in dieser Perspektive vor das Schloß und verdeckt das prächtige Portal von Eosander von Göthe.
Der große, massige Bau mit seiner Kuppel im Hintergrund dominiert das Gemälde, seine im schnellen Duktus gemalten dunklen Umrisse auf rötlich-grauem Grund kontrastieren zu dem schmalen hellblauem Himmel, der über der ehemaligen königlichen Residenz noch zu sehen ist. Die Farbgebung mag wohl von einer untergehenden Abendsonne geprägt sein, so daß der Stein mit einem rötlichen Schimmer bedeckt wird; diese Farbe verrät auch eine gewisse sentimentale Stimmung. Die blauen und weißen Farbflächen im oberen Bildteil setzen sich mit den hier und da gezogenen gelben Strichen und den von den unteren beiden äußeren Bildseiten hereinragenden grünen Partien von den dunkleren Farben des Prachtbaus ab. Das in seinen Konturen nur schwer zu erkennende Nationaldenkmal auf der Schloßfreiheit hebt sich durch hellere, weiß-bläuliche Farben mittig vom Schloß ab. Es ist verwischt, löst sich in seinen Formen auf.
Recht klar hingegen ist im Vordergrund noch eine schwarz gehaltene Statue, vermutlich das um 1861 von August Kiß geschaffene Beuth-Standbild auf dem Schinkelplatz, zu erkennen. Ihr Pinselstrich konturiert sie vor dem lockerer gehaltenen Strich des Schloßbaus und des Nationalmonuments. Der Kontrast zwischen scharfem Vordergrund vor unscharfem Hintergrund schafft den Eindruck von räumlicher Tiefe. Die von rechts und von oben über der Statue hereinreichenden Blätter wirken durch die konturlose und mit breitem Strich gemalte Art ebenfalls wie in Bewegung. Während ihre Schraffur von rechts oben nach links unten weist, nehmen die ‚verquerten‘ Vertikalen des Schlosses die gespiegelte Richtung von links oben nach rechts unten; quer versetzt dazu verläuft der Unterbau des Nationalmonuments über der Spree, der Fluß wiederum nimmt orthogonal dazu die Richtung von rechts oben nach links wieder ein. Durch diese gekreuzten Strukturlinien entsteht das Gefühl von irritierender Bewegung, bei dem der Blick nach festem Halt sucht und ihn wiederum in der Statue im Vordergrund finden kann.
Das Ölbild, von dem er auch eine Lithographie anfertigte, ist stilistisch und thematisch eng mit dem ebenfalls hier gezeigten Bild Unter den Linden von 1922 verbunden. Insgesamt spielen Berlin-Ansichten im Œuvre Corinths jedoch eine sehr untergeordnete Rolle, von den 983 Arbeiten weist der Werkkatalog lediglich elf Berlinmotive nach.
Anders als auf dem ersten Berliner Bild Unter den Linden hat Corinth hier nicht eine Überschauperspektive gewählt, sondern blickt von einem niedrigen Standpunkt zur Schloßfreiheit hinauf. Das Schloß wirkt wie übermächtig von dieser Perspektive aus, der Malduktus läßt die Konturen schwinden und löst so den preußischen Königspalast samt des Denkmals wieder auf. Er führte zugleich eine zweite Perspektive ein, nämlich die von oben herab auf das Standbild im Vordergrund. Corinth treibt hier ein Spiel der Eindrücke und Illusionen und läßt nicht zuletzt durch das Kippen das Blickwinkels den Betrachter unruhig, irritiert ob der Berlin-Ansicht zurück. Man verliert sich in dem Bild und fängt selbst innerlich an zu taumeln.
Auch wenn sich die Konturen in einzelne Farbflächen bei der Schloßfreiheit auflösen, sind wir hier weit von den Pariser Stadtbildern der Impressionisten wie von Pissaro oder Monet entfernt. Corinth schätzte durchaus die Qualitäten der Impressionisten, wollte sie aber nicht kopieren, sondern seinen eigenen Weg finden. Das Bild der Schloßfreiheit setzt malerisch um, was der Künstler in seiner Selbstbiographie im selben Jahr proklamierte: „Ein Neues habe ich gefunden: die wahre Kunst ist Unwirklichkeit üben. Das Höchste!“13 Das Unwirkliche ist das Gegenteil der Kleinteiligen und Detaillierten; das Höchste ist nicht das rein Malerische, sondern seine Verbindung mit dem Sujet. Die wahre Kunst vermag mit wenigen, ausdrucksstarken Strichen das Wesentliche einzufangen und auszudrücken. Hier ist es der persönliche, im Lebensrückblick ‚leicht verwackelte‘ Eindruck des nun funktionslos gewordenen Hohenzollernschlosses, den Corinth zwei Jahre vor seinem Tod malte. In der Malerei, in der Komposition ebenso wie im Farbauftrag, drückt sich Corinths niedergeschlagene und etwas orientierungslose Erinnerung an das alte Berlin und das alte Kaiserreich aus: „Eigentlich ist es noch immer Krieg. So wie ich, der in der Kindheit die Hohenzollerndynastie nebst dem Aufstieg Preußens durchlebt hat, mehr noch als das; der mit Bewußtsein als Mann die Regierung als das einzig Große empfunden hat, mir ist der Boden unter den Füßen entzogen. Ich schwebe in der Luft.“14
Anmerkungen
1 Lovis Corinth, Legenden aus dem Künstlerleben, Berlin: Bruno Cassirer, 1908, S. 27, hier zitiert aus Aust.-Kat. Corinth 1996, S. 131; siehe zu den Schlachthausszenen insgesamt auch Aust.-Kat. Corinth 1985, S. 43f.
2 Julius Meier-Graefe, Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, 2 Bde., Neuausgabe München: Piper 1987, Bd. 2, S. 385.
3 Paul Westheim, „Dix“, in: Das Kunstblatt, 10 (1926), S. 142, hier zit. nach Birgit Schwarz, „Wie der ‚furor teutonicus‘ Dada den Weg bahnte. Corinth, Dix und die Berliner Sezession“, in Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 25 (1998), S. 133–147, hier S. 144.
4 Meier-Graefe 1987, Bd. 2, S. 387.
5 Siehe zu dieser Halle die Monographie von Henning Rogge, Fabrikwelt um die Jahrhundertwende am Beispiel der AEG Maschinenfabrik in Berlin-Wedding, Köln: DuMont 1983.
6 Lovis Corinth, Selbstbiographie, Leipzig: Hirzel 1926, S. 165.
7 Corinth 1926, S. 168.
8 Zitiert aus Reinhard Merker, Die bildenden Künste im Nationalsozialismus, Köln: DuMont 1983, S. 145.
9 Charlotte Berend-Corinth, Lovis, Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1957, S. 243.
10 Siehe Peter-Klaus Schuster, „Malerei als Passion. Corinth in Berlin“, in Aust.-Kat. Lovis Corinth, München, Berlin, 1998, München: Prestel 1996, S. 37–57, hier S. 54.
11 Julius Meier-Graefe, Brief an Lovis Corinth, Berlin, den 2.7.1923, wiedergegeben in Thomas Corinth, Lovis Corinth. Dokumentation, Tübingen: Wasmuth 1979, S. 305.
12 „Man möchte zuweilen nicht hinsehen, glaubt, das, was für Augen da ist, riechen zu müssen.“ (Meier-Graefe 1987, Bd. 2, S. 386.)
13 Corinth am 27.9.1923, in Corinth 1926, S. 185.
14 Corinth am 20.12.1922, in Corinth 1926, S. 160.
Literatur
Lovis Corinth, Selbstbiographie, Leipzig: Hirzel 1926.
Walter Stephan Laux, Der Fall Corinth, München: Prestel 1998.
Julius Meier-Graefe, Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, 2 Bde., Neuausgabe München: Piper 1987 [Orig. ab 1904].
Horst Uhr, Lovis Corinth, Berkeley: University of California Press, 1990, online einzusehen unter http://ark.cdlib.org/ark:/13030/ft1t1nb1gf/ [Stand 2007-08-30].
Lovis Corinth, Aust.-Kat., München, Haus der Kunst, Berlin, Nationalgalerie, hrsg. von Peter-Klaus Schuster, Christoph Vitali und Barbara Butts, München: Prestel 1996.
Lovis Corinth, Aust.-Kat., Wien, Kunstforum der Bank Austria, Hannover, Landesmuseum, hrsg. von Klaus-Albrecht Schröder, München: Prestel 1992.
Lovis Corinth. 1858–1925, Aust.-Kat., Essen, Museum Folkwang, München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, hrsg. von Zdenek Felix, Köln: DuMont 1985.
Lovis Corinth, Aust.-Kat., Köln, Wallraf-Richartz-Museum, 1976.