Über die Jahrhunderte hinweg finden sich in der Kunstgeschichte Systematisierungen visueller Phänomene von Farbe durch Künstler und Gelehrte, die sehr häufig nicht nur in schriftlichen Abhandlungen niedergelegt, sondern auch mit Diagrammen veranschaulicht werden. Analyse und Emotion, Geist und Gefühl durchdringen den Kosmos von Kunstliteratur und Lehre als Hintergrund für die künstlerische Praxis. Farbkreise oder Farbkugeln gehören dabei zu beliebten Anschauungsmodellen, verbinden sie doch wissenschaftliche Erscheinungsweise mit ästhetischer Deutlichkeit. Stark vertreten ist diese Neigung unter deutschen Gelehrten und Künstlern gewesen.
So hat Johann Wolfgang von Goethe seine Farbenlehre (1810), die sich im bewussten Widerspruch zur naturwissenschaftlichen Empirie Isaac Newtons befand, unter anderem mit einem ausgeklügelten System von Zuordnungen von Farben zu bestimmten menschlichen Eigenschaften und Affekten versehen. Sein Interesse an der Ordnung der Farben war ursprünglich von der Malerei und der in Italien beobachteten mangelnden Systematik der verwendeten Farben inspiriert; dabei setzte er der rein physischen Anschauung eine psychologische Wirkung von Farben, die er sogar zu einer sittlichen steigerte, entgegen. Im Austausch mit Goethe setzte sich der romantische Maler Philipp Otto Runge ebenfalls mit der Systematik der Farben auseinander und schuf im selben Jahr 1810 ein räumlich gedachtes Kugelmodell. Er fügt der naturwissenschaftlichen Deutung eine kosmische, symbolische Aufwertung der Farben hinzu, die auch theologische Überzeugungen in sich trugen. Knapp einhundert Jahre vor der theoretischen Begründung der abstrakten Malerei etwa mit Wassily Kandinskys Veröffentlichung zum Geistigen in der Kunst (1912) hatten sowohl Goethe als auch Runge versucht, den emotionalen und symbolischen Eigenwert der Farbe jenseits der traditionellen Ikonographie systematisch herauszuarbeiten. Kandinskys eigener Farbtheorie war die kosmisch-mystische Seite Runges nicht fremd; er war ein typisches Kind seiner Zeit, in der, wie etwa die Expressionisten des Blauen Reiters oder auch der Brücke, Künstler und Intellektuelle zwischen Rationalität und Mystik pendelnd die Welt verklärten.
Auch nach dem Ersten Weltkrieg war die systematische Farbenlehre ein wichtiger Bestandteil der künstlerischen Lehre, etwa am Bauhaus, wo Johannes Itten in seinem Vorkurs die effektvollen Farbkontraste der alten Meister analysierte und dabei auch auf die Erkenntnisse seines Lehrers Adolf Hölzl zurückgriff (später publiziert als Kunst der Farbe, 1961). Zu Ittens Schülern am Bauhaus zählte anfangs Josef Albers, der ihm in der Lehre folgte und in seiner seriell angelegten Malerei Hommage to the Square (ab 1950) die verschiedenen Farbkontraste und Wechselwirkungen von Farben in der Wahrnehmung des Publikums deklinierte (theoretisch dargelegt in Interaction of Color, 1963). Bis zur Perfektion trieb er die geometrisch geordnete und psychologisch fundierte Analyse der Malerei, die aus der Zeit heraus nur konsequent war und aus heutiger Sicht doch sehr akademisch, ja fast pädagogisch wirkt.
Systematisierung, Phänomenologie, Wirkungsanalyse von Farben, Farbkontraste, emotionaler Wert der Farbe, Analyse alter Meister, Farbspektrum auf dem Farbkreis, und das sogar noch in Bewegung gesetzt, um die Potenz der Farbwirkungen auf die Betrachterinnen und Betrachter noch zu erhöhen, all dies sind Stichworte, die sich auch mit der Arbeitsweise von Jay Gard in Verbindung bringen lassen. Jay Gards künstlerische Arbeit ist nicht ohne die hier kursorisch genannten Beispiele aus der Kunstgeschichte zu verstehen. Explizit orientiert er sich an Werken älterer Künstlerinnen und Künstler, die er in den Titeln vieler seiner Arbeiten entsprechend benennt.
1984 in Halle (Saale) geboren, in Karl Marx-Stadt bzw. Chemnitz aufgewachsen, hat er an der Hochschule für Kunst und Design (Burg Giebichenstein) in Halle studiert. Nach einem einflussreichen Intermezzo als Assistent beim New Yorker Künstler Tom Sachs und bei Thomas Demand in Berlin hat er sich dann erneut dem Kunststudium in der Klasse Raum und Installation von Joachim Blank an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst gewidmet. Raum und Installation, Objekte, visuelle, aber auch auditive und funktionale Beziehungen zwischen Betrachter und Objekten im Raum interessieren ihn. Die Vorliebe für die präzise Bearbeitung von Objekten, die im Spannungsfeld von Kunst und Handwerk, interesselosem Schönen und pädagogischem Anschauungsmaterial oszillieren, findet ihre Wurzeln nicht nur im familiären Umfeld – seine Mutter war Textilgestalterin, sein Vater war Industriegestalter –, sondern ist vielleicht auch durch die kulturelle Tradition von Chemnitz geprägt, die sich durch eine nüchterne, fast pragmatische Nähe der Kunst zu Handwerk und Industrie auszeichnet.
Seit 2018 stimmt sich Jay Gard auf berühmte (Vor-) Bilder ein, destilliert ihr Farbspektrum, das er dann wiederum als Farbfächer auf kreisförmigen Objekten verteilt oder auf Farbplatten anordnet, die sich drehend in konstanter Bewegung befinden. Er tut dies als Bildhauer, also mit dem Raum denkend, nicht primär als Maler. Er greift das Diagrammartige der älteren Farblehren wieder auf und ergänzt die empirischen Ansätze, die Itten und Albers bewegen, durch die in der Tradition von Goethe, Runge oder auch Kandinsky stehenden emotionalen, psychologischen und vielleicht sogar kosmischen Interpretationen von Farbe und Form. Jay Gards Vorgehen ist das einer künstlerischen Übersetzung und Weiterentwicklung in die Gegenwart von ihn bewegender Malerei, etwa von Hans Purrmann oder Gabriele Münter, aber auch der sehr viel jüngeren Künstlerinnen Cecily Brown und Jenny Saville. Er analysiert die Farbsequenzen oder auch Formen, überträgt sie in mehreren Variationen auf präzise gearbeitete Farbobjekte, bestehend aus Holz oder Metall, und gibt ihnen dadurch Raum und eine neue Präsenz. Er transformiert sie auf diese Weise zu neuen Kunstwerken, ändert die Farbzusammenhänge und Formen, löst sie komplett vom ursprünglichen Kontext der Kunstgeschichte. Ihn interessieren die emotionalen Reaktionen auf die Farbobjekte, die er bisweilen mit seinen Farbflippern in Bewegung setzt und damit die Farbwirkungen noch erhöht. „Jay Gard erschafft Werke, deren Bildsprache Ästhetik und Rationalität verbindet: aufs Äußerste reduziert ist das formale Rüstzeug, im Augenschein streng und nüchtern sowie begleitet von theoretischen Überlegungen, die aus der künstlerischen Praxis erwachsen“, so die Kuratorin des Museum Gunzenhauser, Anja Richter, anlässlich der Eröffnung von Jay Gards erster Einzelausstellung Gabriele im April 2019. „Seine Arbeiten sind durch strenge geometrische Formen geprägt, die sich in einem klar kalkulierten und konzeptualisierten Ausdruck wiederfinden.“
Im Museum Gunzenhauser hat Jay Gard in der Reihe Junge zeitgenössische Kunst aus Sachsen ausgestellt und wählte dafür Gabriele Münters Herbstliches Blumenstillleben (1912) aus der Sammlung Alfred Gunzenhausers. Dieses in der Farbkomposition ausgewogene, von leuchtenden Farbkontrasten dominierte Gemälde Gabriele Münters ist zugleich Fundament und Gegenstand von Jay Gards Ausstellung. Der Künstler analysierte Vorder- und Rückseite, und auch das Profil des Rahmens. Er zerlegte regelrecht das Gemälde Münters in dessen Einzelteile und setzte diese neu zusammen: Sorgfältig gesetzte Pinselstriche werden in monochrome Farbflächen überführt, organische Elemente verwandeln sich zu geometrischen Formen; und das einst zweidimensionale Bild entfaltet sich im Raum.
Ähnlich geht Jay Gard auch in seinen Objekten vor, die sich mit dem Formvokabular der kunsthistorischen Modelle beschäftigen. Auch hier kondensiert er markante Elemente von Gemälden wie etwa von Hans Purrmanns Palme und Häuser in Ajaccio (1912, Pinakotheken München) heraus, setzt sie aber in völlig andere Materialien wie Holz, Metall oder Neonlicht um. Er baut sogar ganze raumgreifende Settings nach, Modelle nach der Malerei, die ihren direkten Bezug aber völlig verloren haben und Installationen eigenen Rechts sind. Jay Gard entwickelt eine Art hochstilisiertes und perfektioniertes Recycling von Detailformen, die eine eigene ikonographische Erzählung ausblenden und sich allein auf Wirkung und ästhetische Rezeption im Raum fokussieren – Kunst um der Kunst willen.