/ März 20, 2018/ Artikel, Aufsätze, Publikationen

Tobias Lehner. Vom Versuch zum Irrtum, in: Tobias Lehner. Trial and Error, Ausst.-Kat. Junge Kunst e.V., Wolfsburg 7. April bis 9. Juni  2018

„Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die das Werk heißt“, schrieb Wassily Kandinsky in einem berühmten und vielzitierten Text von 1913 rückblickend über den Prozess des Malens. Er führt weiter aus: „Jedes Kunstwerk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand – durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluß eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung.“[1] Die Analogie zur Musik diente Kandinsky zur Erläuterung seines eigenen Ansatzes einer abstrakten Malerei, die kein mimetisches Abbild des Naturschönen war, sondern zu einer neuen, reinen und vergeistigten Kunst und damit zu einem eigenständigen künstlerischen Kosmos führen sollte. Auch wenn über einhundert Jahre später das Kunstwerk nicht mehr als Schöpfungsakt einer neuen Welt gesehen wird – und die Abstraktion nicht mehr gegen die Figuration in Stellung gebracht wird, gegenständliche und ungegenständliche Kunst keine Gegnerschaft mehr provozieren –, sind heute noch bei Malern ähnliche Impulse zu erkennen, die Kandinsky 1913 beschrieben hat. Auch heute noch bannen Maler ihre Welten auf die Leinwand, schöpfen aus ihrer Umwelt ebenso wie aus ihrer Imagination. Sie ordnen das ‚chaotische Gebrüll‘ der Formen und Farben, das sie umgibt und erfüllt, um Neues beim Betrachter entstehen zu lassen und die Freiheit der Empfindung der Freiheit des Schaffens an die Seite zu stellen.

Tobias Lehner ist so ein Künstler. In mehr als 20 Jahren hat er ein umfassendes malerisches Oeuvre geschaffen, das mit seiner ganz und gar abstrakten Formensprache im Umfeld der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst eher eine Ausnahme bildet und sich vielmehr an Entwicklungen der westlichen Nachkriegsavantgarde anschließt. Während seine frühere Malerei stärker von Linien und geometrischen Flächen geprägt ist, tektonisch aufgebaut zu sein scheint und damit auch der eines Künstlers wie Martin Kobe nicht unähnlich ist, verzichtet er seit einigen Jahren zunehmend darauf und arbeitet seine Flächen freier aus. Konsequent verweigert sich Lehner der offenkundigen Narration, des Fabulierens durch figurative Andeutungen, sondern setzt organische neben geometrische Formen, fügt hinzu und nimmt wieder weg, setzt Form um Form ohne Anklänge an Gegenständen seine Bilder zusammen. Lehner sucht die Lösung zu seinen künstlerischen Problemen im Prozess des immer wieder neuen Übermalens, frei nach dem titelgebenden Motto des „trial and error“ (Versuch und Irrtum). Einige seiner in Acryl gemalten Bilder wirken wie Palimpseste, in denen sich neue Motive und Formen über ältere legen, wobei Lehner nicht die älteren Zeugnisse abschabt, sondern sie stehen lässt und übermalt. So entstehen Schicht um Schicht Gemälde mit abstrahierenden Formen und Flächen, die entgegen der Abstraktion der klassischen Moderne wieder von einem Tiefenraum geprägt sind, entstanden durch kompositorische und motivische Effekte sowie der Verwendung von Zentralperspektive, aber ebenso durch die tatsächliche Überlagerung von dünnen Farbschichten. Lehner arbeitet sich wieder und wieder an seinen Leinwänden ab, setzt Farben, erzeugt malerisch Assoziationsmuster und Stimmungen, verwirft diese wieder, sucht neue Möglichkeiten und arbeitet solange, bis das Zusammenspiel von Farben und Formen die richtige Balance und den richtigen Komplexitätsgrad hat, die zu seiner Gefühlslage passende Aussagekraft hat und seinem eigenen Stimmungsbild entspricht. Bei seinen Kompositionen geht es ihm nicht um Nachbildungen der Welt, sondern um Neuschöpfungen durch die Malerei, dem Diktum Kandinskys nicht unähnlich, dass Werkschöpfung Weltschöpfung sei. Lehner stellt uns seine Innenwelten vor, verarbeitet Erfahrungen und Erlebnisse und sucht die Entsprechungen dafür in Form und Farbe.

Während sich Tobias Lehner in seiner abstrakten Grundhaltung deutlich von seinem direkten, häufig figurativ arbeitenden künstlerischen Umfeld in Leipzig absetzt, findet er in der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts erste Orientierungen für seine eigene Arbeit, allen voran in der angloamerikanischen Kunst der Nachkriegszeit. Künstler wie Jackson Pollock, Mark Rothko, Barnett Newman oder auch Frank Stella interessieren Tobias Lehner. Der abstrakte Expressionismus und die amerikanische Farbfeldmalerei mit ihren immersiven Qualitäten, die bisweilen zum Transzendentalen neigen, das Eintauchen in sphärisch anmutende Bildwelten, die Farbfeldmalerei und vor allem aber ihr Ausloten von malerischer Komplexität und Einfachheit sind Bildtechniken, die Lehners eigene Arbeit stimuliert haben. Hierin ist Lehner mit zeitgenössischen Künstlern wie Sterling Ruby vergleichbar, der sich in seiner Malerei ebenfalls mit dem Erbe des Abstrakten Expressionismus auseinandersetzt. Mit Rothko teilt Lehner die Ansicht, dass Kunst Emotionen und Imaginationen evozieren soll und nicht etwa eine Systematik ihrer selbst willen darstellt. Jedoch ist er von der strengen Reduktion der Malerei Rothkos oder Newmans entfernt und ‚überfrachtet‘ eher seine Bilder, ‚chaotisiert‘ sie und ordnet neu. Auch fällt seine Malerei weniger sphärisch-transzendental aus als die seiner älteren amerikanischen Kollegen, vielmehr scheint er auch strengere Ansätze von Op Art-Künstlern wie etwa Bridget Riley wieder aufzugreifen und diese mit einer zeitgenössischen Vision weiterzuentwickeln. Der Fundus seiner Malerei ist die Kunst des 20. Jahrhunderts, aus der er schöpft und deren Impulse er verarbeitet. Seine Ästhetik aber ist die des 21. Jahrhunderts, sein visuelles Vokabular ohne die Erfahrung der Bildsprache von Videoanimationen und Computergrafik nicht denkbar.

Die von Kandinsky benutzte Metapher der malerischen „Instrumente“, die „zum Schluß eine Symphonie bilden“ lässt sich auch auf die Malerei Lehners anwenden. Als ehemaliger Chorknabe und Sohn eines Berufsmusikers ist Tobias Lehner stark von Musik und besonders von Johann Sebastian Bach geprägt. Kosmos und Ordnung, Struktur und Wiederholung der Musik Bachs, ihre Harmonien und Kompositionsprinzipien hat Lehner verinnerlicht, ohne dass seine Malerei freilich ein Abbild von dessen musikalischen Prinzipien ist. Er folgt aber der musikalischen Abstraktionsfähigkeit, die durch Harmonien, Melodien und Rhythmus beim Hörer Ideen und Bilder evoziert. Auch zeigen Lehners Bilder keine wörtliche Motivik, sondern bilden rhythmisierte Farbklänge, bisweilen unterbrochen durch Leitmotive und dadurch Assoziationsmuster, die bedeutungsoffen  beim Betrachter eine Vielzahl an Verbindungen zulassen. Lehners Bilder fallen mal als Etüden aus, mit wenigen, aber präzise gesetzten Ausdrucksmitteln, mal entfalten sie aber auch die orchestrale Wirkmacht veritabler Symphonien, die durch Umfang und Vielfalt der malerischen Stimmen den Betrachter in ihren Bann ziehen.

Lehners Hauptwerk in der Wolfsburger Ausstellung, für den spezifischen Ort oberhalb der zentralen Treppe gemalt, kann als eine solche Symphonie empfunden werden. Auf schwarzem Grund steht ein strenges Raster, von dem sich amorphe Farbgebilde vornehmlich in Magenta, Orange, Blau und Grau schablonenhaft absetzen. Die Rasterlinien nehmen diese Farben wieder auf. Hie und da zeugen Farbspritzer vom dynamischen, vom körperlichen Akt des Malens, verweigern sich jeder Kontrolle, die zuvor mit dem streng geometrischen Gitter so kleinteilig und zum Impulsiv-Zufälligen in Kontrast gesetzt wurde – Stilmittel und Techniken, die sich in unterschiedlicher Ausprägung auch auf den anderen Leinwänden wiederfinden lassen. Größe und Anlage des Bildes sind auf Immersion ausgerichtet. Als Betrachter könnte man sich in dem Bild verlieren, wäre es nicht auf Weitsicht und Entfernung gemalt. Ein anderes Beispiel für diese immersiv anmutenden Bildwelten mit Mitteln der Malerei – und nicht etwa durch eine computergestützte Virtuelle Realität – ist auch das großformatige Gemälde, das Lehner bei der Galerie Kleindienst in Leipzig 2017 ausgestellt hat (Ohne Titel (5), 2017). In Nachbarschaft mit weiteren Leinwänden – die bisweilen von monochrom gehaltenen geometrischen Flächen dominiert sind, die an die Malerei Frank Stellas erinnern – und seinen abstrakten Plastiken zog das Bild die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Auch in dieser Arbeit legt Lehner verschiedene und gegenläufige malerische Ansätze übereinander: sphärisch anmutende Farbflächen in Orange und Rosa, die wie aufgerissen wirken durch schwarze Farbspritzer Pollockscher Prägung, über die sich wiederum gräulich verlaufende Schleier legen, so flüssig und schnell gemalt, dass die Farbe herunterläuft und damit das Prozesshafte des Malens ohne Scheu deutlich macht. An die Oberfläche schließlich drängen monochrom-orangene Flächen, deren Wirkung durch grau-weiße Aureolen noch verstärkt werden; sie scheinen wie Inseln aus der Tiefe aufzutauchen und legen sich wie ein Tarnnetz über den dynamischen Farbkosmos dahinter. Farb- und Formkontraste erzeugen einen offenen Bildraum, der eine Vielzahl von Assoziationen etwa an zerklüftete, aufgerissene Landschaften zulässt, sich aber jeder erzählerischen Eindeutigkeit entzieht.

Man taucht in Lehners Bildräume ein, arbeitet sich Stück für Stück durch fragmentierte Bildschichten, auf der Suche nach Erkennbarkeit und Erkenntnis. Am Ende bleiben Spuren der Erinnerung, Bruchstücke von Bedeutungen, die mit Formen und Farben in Verbindung gesetzt werden, ohne je ein eindeutiges Gesamtbild zu ergeben. Flüchtige Spuren eines Augenblicks. Diese Fragmentierung kombiniert er bei seinen aktuellen Gemälden mit einer auffallenden Farbgebung, die sich durch eine grelle Kombination von Neonfarben etwa in Magenta, Grün oder Orange auszeichnet, deren Wirkung vor dunklem oder grauem Grund noch gesteigert wird. Fast wie Warnhinweise treten diese Flecken auf und erzeugen keineswegs einen harmonischen Zusammenklang, sondern regen zum Widerspruch an, provozieren visuell. Lehners derart gestaltete Bilder, hinter denen auch Assoziationen an zerklüftete Landschaften aufblitzen, scheinen krisenhaft zu reagieren auf eine Zeit, die von Zerrissenheit und Konflikten geprägt ist. Die camouflageartig gesetzten Farbflächen könnten etwa Kriegsstrategien imitieren, ohne dass Lehners offene Formgebung diese Lesart aber direkt herausfordert. Lehner malt gegenstandslos, aber dennoch voller Bezüge zu seiner Bild- und Lebenswelt. Der Glaube an ein einheitliches Werk- und Weltbild, wie es vielleicht noch Kandinskys Text suggeriert, ist nach den politischen und künstlerischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht mehr denkbar. Und dieser Fragmentierung des Denkens, der Vielschichtigkeit und Komplexität der Welt, dem Zweifel an einer einfachen Weltsicht und damit der zerrissenen Mehrdeutigkeit der Existenz gibt Lehner in seiner Malerei Ausdruck.

[1] Wassily Kandinsky, „Rückblicke“, in Kandinsky. 1901–1913, Berlin: Verlag Der Sturm 1913, I–XXXXI, hier S. XIX.

 

180515 Lehner Innen Druck
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