Vorwort zum Katalaog M+M. Fan der Menschheit, Kunstsammlungen Chemnitz 2019
„Fan der Menschheit“ oder, wie es im Englischen noch eingängiger heißt, „Fan of Man“ ist der Titel der Ausstellung des Künstlerduos M+M in den Kunstsammlungen Chemnitz. Der Titel ist ein Zitat: In der aktueller Zweikanal-Videoarbeit des Duos, Der 8. Tag, bekennen sich Teufel und Gott gleichzeitig dazu, ein solcher Fan zu sein. Es ist also auch der Teufel, der sich zum Freund der Menschen erklärt („Ich bin Humanist, vielleicht der letzte Humanist“). Denn er weiß die Schwäche der Menschen auf seiner Seite, aufseiten von Zerstörung und Vernichtung, die ihm ins Handwerk spielen.
Ist der Titel ironisch gemeint? Wie kann man angesichts der Zerstörung von Natur und Umwelt, der gegenseitigen Vernichtung der Menschen in Kriegen oder auch den vielen unterkomplexen politischen Debatten in den Medien und im Internet noch ein Anhänger der Menschheit sein? Während etwa Kinder und Jugendliche, unterstützt durch verzweifelte Wissenschaftler, freitags für ihre Zukunft demonstrieren, haben es sich alle anderen gemütlich gemacht im verantwortungslosen und egoistischen Umgang mit Ressourcen, die zu wahrscheinlich irreversiblen Schäden der Natur und damit unserer Lebensgrundlagen führen.
Und dennoch: M+M sind keine Zyniker, im Gegenteil, es geht ihnen um die Menschen. Seit den frühen 1990er Jahren arbeiten sie sich immer wieder in unterschiedlichen Medien und künstlerischen Ansätzen an wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, ökologischen, sozialen und politischen Entwicklungen ab. Und dies tun sie über längere Zeiträume hinweg, inzwischen über Jahrzehnte, häufig in lang angelegten Serien, in denen sie ihre spezifischen Ansätze stetig weiterentwickeln, um sich mit aktuellen Fragen und Situationen auseinanderzusetzen. M+M beziehen sich bisweilen auf den großen Schatz der westlichen medialen Kultur, der Kunst- und vor allem Filmgeschichte, greifen popkulturell politische und wissenschaftliche Dispute auf, gehen auf soziale Konflikte ein, untersuchen die politische Rhetorik von Machthabern in medialen Erzeugnissen, in Zeitungen, Film, Fernsehen, Internet, dekonstruieren Strategien der Manipulation und Vereinnahmung und zwingen die Nutzerinnen und Nutzer zum Selberdenken, indem sie die Linearität von Erzählungen aufbrechen und Parallel- und Simultanerzählungen in Filmen und Bildern entwickeln.
„Nicht trennen zwischen Geschlechtern, Räumen und Gefühlen“, deklarieren sie 2015 in einem kurzen, manifestartigen Text im Katalog zur Filmreihe 7 Tage. „Das Erlebnis aus der Linearität der Erzählung befreien. Keinen Anfang und kein Ende setzen, sondern nur eine Schlüsselszene. Dem Zuschauer die Chance auf eine Zugabe geben.“[1] Der Vielansichtigkeit ist dieser kurze Text gewidmet, der ihre künstlerische Intention zusammenfasst, nämlich nicht einseitig an Problemen arbeiten, sondern gegenläufige Vielschichtigkeit in Schlüsselszenen zu setzen und Ambiguitäten und erzählerische Offenheit nicht zu scheuen. Auch in der Kunsttheorie galt traditionell bis in das späte 19. Jahrhundert die aristotelische Einheit von Raum, Zeit und Handlung als strenge Vorgabe, was von der klassischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts aufgebrochen wurde. Die konzeptionelle und formale Vielansichtigkeit, die Verweigerung linearer Erzählstrukturen war gerade für den Film als zeitbasiertes Medium die vielleicht noch größere Herausforderung, fand aber Eingang in Filme und TV-Serien, die auch die beiden Künstler geprägt haben, wie Luis Buñuels Das goldene Zeitalter (1930), oder sehr viel später David Lynchs Twin Peaks (1990). M+M greifen solche Ansätze in ihren Arbeiten wie etwa den 7 Tagen wieder auf und bilden damit einen Kontrapunkt zu täglich konsumierten Bilder- und Informationsflut, die mit ihrer simplifizierenden Bildsprache Wahrheitsgehalt und einheitliches und geschlossenes Weltbild beschwören, dabei unser Denken glätten und keinen intellektuellen Widerspruch zulassen. „Fokussierung und Stil vergessen. Unschärfen und Ablenkungen verfolgen. Zerstreutheit zum Leitfaden erheben. Unordnung choreografieren“, fordern sie entsprechend im oben zitierten Text. Das Mehrdeutige, das Ambivalente erheben sie zu einer Leitidee, die sie in ihrer unheroischen, durchaus auch ironischen Grundhaltung unter die Begriffe der Ablenkung und Zerstreutheit subsummieren. (Schon die Namensgebung M+M und der dahinterstehende Ansatz, nicht die einzelne Künstlerpersönlichkeit als vielmehr das kollegiale oder gar kollektive Erarbeiten von künstlerisch-wissenschaftlichen Positionen zu betonen, bezeugt diese uneitle Haltung.)
Nicht eine verengende Eindimensionalität von Sequenzen, Aussagen und Bedeutungen steht in ihrer Arbeit im Vordergrund, sondern sie verfolgen ein Geflecht von bildlichen Um- und narrativen Nebenwegen: „Nichts nacheinander und nicht hintereinander. Alles nebeneinander und gleichzeitig. Sich in alle Richtungen parallel befinden. Sich in alle Richtungen bewegen.“ In ihren Rauminstallationen, Video- und Fotoarbeiten bieten sie in einem mäandernden Strom an Bildern immer wieder neue und gegenläufige Perspektiven an, ein Kaleidoskop an Blickwinkeln und Verständnisangeboten. Sie drängen niemandem ein bestimmtes Ziel auf, sondern arbeiten mit der Methode der Polyfokalität. Werner Hofmann benutzte diesen Begriff in einem anderen Kontext als ein bestimmendes Moment der Moderne und auch der Nachkriegskunst, der er ein „Verwirrungspotential“ bescheinigt.[2] Verwirrung zu stiften ist M+M durchaus nicht fremd, führt man sich die zu einem schwer zu entschlüsselnden, aus unzähligen Filmstills zusammengesetzten Gesamtbilder wie kurz vor fünf/D vor Augen. Das serielle Arbeiten an großen Werkgruppen wie die in Chemnitz gezeigten 7 Tage, in front oder eben kurz vor fünf, in denen sie über Jahre hinweg eine narrative Methode immer wieder neu deklinieren, ist typisch für sie und unterstreicht den fast wissenschaftlichen Versuchsaufbau ihrer künstlerischen Arbeit, mit dem Ziel, Untersuchungen über die Wirkung ihrer Kunst auch ortsspezifisch hinsichtlich gesellschaftlicher Prozesse anzustellen.
Ich danke allen an der Ausstellung Beteiligten sehr. Unserer wissenschaftlichen Volontärin Joanna Straczowski gilt mein großer Dank für ihre kuratorische Assistenz. Sie hat mit viel Lust und Elan das Projekt im Haus betreut und einen erhellenden Beitrag zum Verhältnis von Film, Fotografie und Stoff im Werk von M+M hier im Katalog geschrieben. Dem Team im Haus, der Haustechnik und der Verwaltung danke ich für die professionelle Organisation der Ausstellung. Sebastian Baden, Kurator an der Kunsthalle Mannheim, hat einen profunden Text zur politischen Ikonografie und künstlerischen Verortung des Panic Room und der dazugehörigen Werkgruppe in front zum Katalog beigetragen. Dem seit Jahren mit den Künstlern eng zusammenarbeitenden Gestalter Felix Kempf danke ich für das sehr gelungene visuelle Erscheinungsbild des Katalogs und dem Kerber Verlag für die gewohnt professionelle Betreuung. Den wichtigsten Personen in diesem Kreis gilt mein größter Dank, den beiden Künstlern hinter dem Synonym M+M, Marc Weis und Martin De Mattia. Mit viel Verve haben sie sich auf das Abenteuer einer Ausstellungsentwicklung für die Kunstsammlungen Chemnitz eingelassen. Neue Arbeiten sind für die Kunstsammlungen entstanden, etwa die Reihe der tessuti, Frucht ihres Stipendienaufenthalts in Venedig 2017, in dem sie sich mit der Tradition der dortigen Luxustextilproduktion und deren Verflechtungen zur Welt der Reichen und Mächtigen beschäftigt haben. Auch wurde die Präsentation des Filmzyklus der 7 Tage für die Räume angepasst und um den jüngsten 8. Tag ergänzt. Die Rauminstallation Panic Room wurden von M+M fast tagesaktuell für die Kunstsammlungen weiter entwickelt mit der eigens herausgebrachten Zeitung Merkel 05 und neuen fotografischen Arbeiten der Serie in front. Sie richten hier ihren Blick auf die gesellschaftlich und politisch angespannte Lage vor dem Hintergrund der Flüchtlingsfrage seit 2015 und den medialen und politischen Debatten darüber, gerade auch in Chemnitz. Sie wollen eben: „Den Erzählraum ausweiten.“ So versucht die Ausstellung M+M. Fan der Menschheit genau dies, den Erzählraum sowohl innerhalb der Filme, Installationen und Werke auszuweiten als auch darüber hinaus Verbindungen zu schaffen zum Sammlungsbestand der Kunstsammlungen wie auch zu den die Stadt Chemnitz prägenden kulturellen Traditionen und aktuellen politischen Debatten. Denn alles existiert parallel, nicht linear.
In Der 8. Tag versucht schließlich der Teufel den Protagonisten Kevin zu verlocken: „Ich bin auf dem Höhepunkt. Ich nehme die Steine von Deinen Schultern. Ich schenke Dir Vergnügen, die Freiheit, Dich niemals entschuldigen zu müssen. Das ist Revolution.“ Fan der Menschheit? Eher eine Tragödie faustischen Ausmaßes. Aber wie heißt es am Ende von Goethes Faust der Tragödie zweiter Teil (1832)?: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, verkünden die Engel zur Errettung von Faust. Goethes humanistisches Menschheitsideal scheint hier durch. Aber reicht es heute noch, sich nur zu bemühen?
[1] M+M, „Notizen zur Herstellung einer zeitlichen Vielansichtigkeit“, in M+M. 7 Tage, Ausst.-Kat. Casino Luxembourg, Luxemburg 24.1–3.5.2015, Galerie im Taxispalais, Innsbruck 3.10.–29.11.2015, hrsg.: von Casino Luxembourg – Forum d‘Art Contemporain, Luxembourg, Ostfildern: Hatje Cantz 2015, 2–5, hier 4.
[2] Werner Hofmann, Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München: C.H. Beck 1998, S. 332.