/ Dezember 2, 2011/ Vorträge

Vortrag zu „Jan Hoets Chambres d’amis 1986 in Gent, oder: die Domestizierung der Ausstellung“, in Die Kunst auszustellen, Tagung Universität Leipzig, Kunsthistorisches Institut in Kooperation mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Studiengang Kulturen des Kuratorischen, 2.–4.12.2011

 Die Ausstellung – Vorstellung der Konzeption und der ausgeführten Interventionen

Mit einem großen Feuerwerk des Pyrotechnikers Pierre-Alain Hubert vor der Sint Pieterskerk und mit Händels Feuerwerksmusik wurde am 21. Juni 1986 die Ausstellung Chambres d’amis in Gent eröffnet. Neben Künstlern und Museumsleuten waren der belgische König, der Premierminister und andere wichtige staatliche Repräsentanten eingeladen worden. Das nationale Fernsehen übertrug sechs Stunden lang die Feierlichkeiten, was für eine Ausstellungseröffnung in der belgischen Geschichte ein einmaliger Vorgang war! Die Ausstellung mit einigen der damals wichtigsten lebenden Künstler wurde zu einem außergewöhnlichen Erfolg in Fachkreisen und beim Publikum – und begründete den Ruhm seines Ausstellungsmachers Jan Hoet, der in der Folge nicht nur Kommissar der Biennale, sondern auch Leiter der documenta IX von 1992 wurde.

Chambres d’Amis soll im Rahmen dieser Tagung vorgestellt werden, weil wir damit zum einen temporär den institutionellen Rahmen hin zu einer städtischen Ortsspezifik verlassen und weil zum anderen zu untersuchen ist, worauf ihr großer Erfolg beruht, ob auf den einzelnen, zum Teil exzellenten künstlerischen Interventionen oder nicht vielmehr auf ein Zusammenspiel von Techniken, durch die sich der Kurator darüberhinaus als ein den Künstlern ebenbürtiger Partner präsentieren konnte. Ich werde also kurz die Ausstellungsidee und die verschiedenen Interventionen vorstellen, dann nach möglichen Vorbildern fragen, über das Verhältnis von Künstler zu Kurator sprechen und schließlich auf die Motivation und möglichen Auswirkungen zu sprechen kommen.

Konzept und Katalog

Der Titel „Chambres d’Amis“ und noch stärker der Titel des Katalogessays „Evasion“ verweisen bereits auf die Zielrichtung der Ausstellung: aus dem Museum ausbrechen und der Kunst Aufnahme bei Freunden geben. Die Idee der Ausstellung war im Prinzip einfach: 51 Künstler wurden eingeladen in einer Genter Privatwohnung zu intervenieren, also ortsspezifisch zu arbeiten. Die Künstler sollten sich mit dem Leben der Menschen und ihren Lebensverhältnissen vor Ort auseinandersetzen. Ausstellungsort waren für die Dauer von drei Monaten Häuser oder Wohnungen von etwa 70 Bürgern, die ihre Räume zur freien Verfügung stellten.

Im Katalogessay geht Hoet näher auf seine investigative Ausstellungsidee ein. Er vermeidet bewußt das Wort Konzept, weil er „so unsystematisch wie möglich“ vorgehen möchte. Hinter der Ausstellung steht weniger die Befragung eines Themas, sondern die einer Struktur. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Kritik am White Cube des Museums mit seinen vermeintlich sterilen und zugleich autoritären Rezeptionsvorgaben. So spricht er wörtlich von der „manipulierenden, alles in seinen Machtbereich ziehenden Autorität“ und der „Vormundschaft des Museums“. Dabei greift er Topoi des institutionskritischen Künstlerdiskurses aus den frühen 1970er Jahren etwa von Daniel Buren oder Robert Smithson auf, der die Museen als „Anstalten und Gefängnisse“ bezeichnete. Im Katalog erklärt Hoet, daß es ihm um eine Befragung der Rahmenbedingungen des künstlerischen Feldes, von der Produktion über die Präsentation bis hin zur Rezeption, geht.

Vorstellung der Künstler und Werke

Die eingeladenen Künstler kamen aus Europa, den USA und Japan, und gehörten damals zu den bekanntesten weltweit, zur „Elite der zeitgenössischen Kunst“, wie Jan Hoet sagte bzw. „the hottest on the international scene“, wie Bruce Altshuler meint. Die meisten Künstler gehörten wie der Kurator zu den Jahrgängen der späten 1930er und der 1940er Jahre, waren weiß, männlich und hatten in den 1960er Jahren ihre künstlerische und gesellschaftliche Sozialisation erfahren. Der weibliche Anteil war mit nur vier Künstlerinnen extrem gering und entsprach dem dominierenden ‚männlichen Blick‘, was im Übrigen von Robin Winters im Katalog offen kritisiert wurde.

Die künstlerische Ausrichtung der Eingeladenen war heterogen, dennoch lassen sich bestimmte Schwerpunkte ausmachen. Viele der Künstler waren im Vorfeld bereits durch installative oder auch partizipative Arbeiten aufgefallen, mit denen sie sich für die Ausstellung empfahlen. Videokunst war mit Ausnahme von Bruce Nauman nicht vertreten, Fotografie nur wenig, etwa durch François Hers und Niek Kemps. Gering war auch der Anteil derjenigen Künstler, die stärker einem autonomen Kunstbegriff verhaftet waren, wie zum Beispiel Royden Rabinowitch. Ein kleiner Teil der eingeladenen Künstler gehörte den neoexpressiven Tendenzen der 1980er Jahre an, wie etwa Michael Buthe, Helmut Middendorf, Nicola de Maria oder Roger Raveel. Hoet hatte auch einige etwas weniger bekannte belgische Künstler wie Philip van Isacker, der als einziger eine prozeßorientierte Arbeit im städtischen Außenraum installierte, eingeladen, um die Region stärker als Ort der Gegenwartskunst zu verankern. Auch performative Ansätze wie die theaterartige Initiative „Chambres d’ennemies“ von Jacques Charlier waren vertreten, ebenso explizit gesellschaftskritisch arbeitende Künstler wie Jef Geys. Einige Künstler wie Günther Förg, Niek Kemps, Raphael Buedts oder Juan Munoz erhielten hier ihren ersten internationalen Auftritt. Am stärksten aber vertreten waren zum einen die Künstler der in den späten 1960er Jahren bekannt werdenden Generation der arte povera wie Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Mario und Marisa Merz, Giulio Paolini oder Gilberto Zorio – und zum anderen die stärker konzeptuell arbeitenden Künstler wie Sol LeWitt, Dan Graham, Joseph Kosuth, Lawrence Weiner, Daniel Buren oder Niele Toroni, um hier nur einige zu nennen. Ihre Auswahl ist nicht nur aus Gründen ihrer Bekanntheit zu erklären, sondern auch durch das Zusammengehen ihres Ansatzes im Sinne eines offenen Kunstwerks mit der Idee einer offenen Ausstellung. Ihre unterschiedlichen Ansätze in der Auseinandersetzung mit den materiellen, räumlichen, sozialen und auch institutionellen Rahmenbedingungen der Kunst waren am besten für Hoets Ausstellungsidee geeignet.

Ich will Ihnen kurz einige Beispiele der künstlerischen Interventionen in einem Parforce-Ritt zeigen: Unter den Künstlern, die in einen funktionalen, formalen oder materialästhetischen Dialog mit den Gästezimmern traten, ist zum Beispiel Mario Merz zu nennen, der einen organisch geformten, sich durch drei Räume schlängelnden Granit- und Steintisch baute und so die Grenze zwischen Kunst und Leben, Natur und Kunst überwinden wollte. Niele Toroni verhielt sich mit seinen Pinselsetzungen in einem winzigen Gästezimmer sehr viel zurückhaltender; er verwies durch seine standardisierten Punktierungen auf den Raum als Bildträger und bestätigte damit das von Hoet formulierte Ziel: „Chambres d’Amis zeigt keine Kunstwerke in einem Raum, sie zeigt den Raum als Kunstwerk.“

Bei Reiner Ruthenbeck, der in einem wirkungsästhetischen All-Over zwei Räume in je rotes und blaues Licht in Anlehnung an die Farbgebung des Genter Altars flutete und dazu eine Tonbandaufnahme von Pausengeräuschen der benachbarten Schule abspielte, kommt es zu einer stärkeren Ästhetisierung und fast Sakralisierung des Raumes. Während Ruthenbeck jedoch noch Bezug auf das tatsächliche Leben der Bewohner in diesen Räumen nahm, trat bei anderen Künstlern wie Gerhard Merz eine zunehmend musealisierende Inszenierung von Räumen in den Vordergrund. Gerhard Merz hatte sein Gästezimmer weitgehend von privaten Lebensspuren gereinigt und so einen klassisch-strengen Raum geschaffen, den er durch seine Betitelung „GENT MCMLXXXVI“ zum Kunstwerk erklärte.

Einige Künstler ergriffen gleich von ganzen Wohnungen Besitz und unterwarfen diese in ihrer Gesamtheit dem künstlerischen Eingriff, so zum Beispiel Nicola de Maria, der die Wohnung einem farbintensiv-expressiven Rausch unterzog und anstelle der Lebensspuren der Bewohner seine eigenen Objekte installierte. Bertrand Lavier wiederum spürte potentielle Gefahren der Intervention im privaten Rahmen auf: Er praktizierte einen All-Over-Pointilismus, den man auch als Kommentierung auf die mangelnde Distanz des privaten Raumes zum Kunstwerk, auf die Einverleibung von Kunst im bürgerlichen Ambiente verstehen mag.

Anders als Sol LeWitt, der sich auf eine rein formale Intervention im Eingangsbereich eines Hauses beschränkte, verfolgten Künstler wie Dan Graham, Bruce Nauman oder Joseph Kosuth ihre eigenen konzeptuellen Ansätze weiter, indem sie bereits vorher erprobte Ideen und Werke präsentierten. Allerdings adaptierten sie diese an den Kontext.

Bruce Nauman zeigte im Hause eines wohlhabenden adeligen Genter Ehepaars eine dreiteilige Installation bestehend aus der Neonarbeit Hanged man, der Videoinstallation Good Boy Bad Boy und der Audiofassung seines One hundred lives and dies. Er hatte die dreiteilige Arbeit, bei der es hintergründig um das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein geht, im Krefelder Haus Esthers zum ersten Mal 1985 gezeigt. Anhand der gesprochenen Übersetzung ins Niederländische und der Inszenierung vor Ort passte er die Installationen an den neuen Kontext an.

Joseph Kosuth ging stärker auf den Gastgeber ein, indem er in Gent seine Ausstellungsreihe Zero & Not über den von Sigmund Freud verfassten Text über die Pathopsychologie des Alltags im Haus eines Psychiaters fortsetzte. Die Wände des Hauses wurden mit einer Papiertapete versehen, die als Blowup die geschwärzte Textpassage von Freud dem Besucher zum dechiffrieren anbot. Die Ergänzung der schwer lesbaren Textstellen stand beliebigen Fehlinterpretationen offen, die laut Freud Ausdruck des Unterbewußten sind. Über diese Selbsterfahrung erfuhr der Besucher zugleich etwas über sich, den Hausherren und dessen Arbeit als Psychoanalytiker.

Noch stärker auf den sozialen Kontext eingehende und auch partizipative Ansätze, die sich ja gerade bei einer Ausstellung wie dieser anboten, finden sich zum Beispiel bei Maria Nordmann, Luciano Fabro, Paul Thek oder Jef Geys. Luciano Fabro stellte in seiner Arbeit C’est la vie einen großen, asymetrischen weißen Stoff her, der einem jungen Mädchen als Spielunterlage diente. Die Form des Stoffs lehnte sich an die vier gekrümmten Linien aus dem Roman Tristram Shandy von Laurence Stern als Verweis auf die Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens an. Fabro schuf seine Arbeit als Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl, die im April desselben Jahres vorangegangen war, mit Blick auf die Gefahren, aber auch die immer wieder neuen Möglichkeiten des Lebens.

Paul Thek realisierte in Gent seine letzte Ausstellungsbeteiligung in Europa, die in enger Kommunikation mit den Kindern der Gastgeberfamilie entstanden war. Die Installation trug den Titel Visual Therapy und war dem atomwaffenkritischen Erzbischof von Seattle Raymond Hunthausen gewidmet. Die Arbeit war für den an AIDS erkrankten Künstler Therapieansatz und politisches Statement gegen Aufrüstung zugleich. Als Besucher war man eingeladen, zusammen mit den Kindern beim Spiel mitzumachen, und sich so einer kindlichen Interpretation der Welt zu öffnen.

Als Letztes will ich noch auf die Arbeit von Daniel Buren eingehen, der in situ sowohl in einer Gästewohnung als auch im Genter Museum für zeitgenössische Kunst intervenierte. Seine Arbeit Le décor et son double. Pièce en deux actes ou un acte pour deux pièces ging am deutlichsten auf die Ausstellungsidee von Jan Hoet ein. Das einflußreiche Sammlerehepaar Herbert hatte Buren ausgesucht und ihm ihr Gästezimmer zur Verfügung gestellt, in dem er mit seinen 8,7cm breiten Streifen intervenierte. Senkrechte, fuchsiafarbene Papierstreifen, die diagonal nach unten abgeschnitten waren, rhythmisierten den Raum. Buren ließ dann den Raum mit dem gesamten mobilen Interieur eins zu eins wieder im Museum aufbauen. Ein fast identisches Double. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Räumen war die Anbringung der farbigen Papierstreifen. Im Haus der Herbert war der obere Teil der diagonal abgeschnitten Streifen zu sehen, im Museum der dazugehörige untere Teil. Während also der nicht von Buren stammende, funktionale Teil der Wohnung als Kopie im Museum stand, war der künstlerische Eingriff, den Buren im Titel als „décor“ im Sinne seiner raumbezogenen Arbeit bezeichnete, sowohl in der Wohnung als auch im Museum einzigartig. Buren erweiterte bzw. musealisierte die Ortsspezifität, indem er die in den Privatwohnungen vorgefundenen Arbeits- und Rezeptionsbedingungen im Museumsraum rekontextualisierte. Wie auch bei anderen Ausstellung thematisierte er hier die Bedeutung der Rahmenbedingungen in der Wahrnehmung von Kunst, indem er dem Betrachter die Möglichkeit des Vergleiches zwischen der Situation im Privatraum und im Museumsraum gab. Anstatt das Museum zu ignorieren, unterstrich Buren die Bedeutung des Museums in der Kunstwelt, was wiederum als Weiter- bzw. Rückführung von Hoets Ausstellungsidee verstanden werden konnte.

Einbindung in die Ausstellungsgeschichte

Die Ausstellungsidee war nicht völlig neu und konnte auf einige ältere künstlerische Ideen und Ausstellungen aufbauen. Inspirationen hatte sich Hoet eigenem Bekunden nach aus der Kunstgeschichte und seinen persönlichen Kontakten zu Künstlern geholt. Er selbst nennt als wichtige Referenzen unter anderem El Lissitzky, Kurt Schwitters, Joseph Beuys und natürlich Marcel Broodthaers mit seinem imaginären Musée d’art moderne, département des aigles, das er 1968 in seiner Brüsseler Privatwohnung kreierte.

Aber auch andere Ausstellungen der 1960er und 1970er Jahre präsentierten in Reaktion auf die Erweiterung des künstlerischen Feldes neue Ausstellungsthemen und –formen. Beispielhaft kann man hier neben Szeemanns Ausstellungen von 1968 und 1969 in Bern, von denen wir schon gehört haben, hier die von Germano Celant im Rahmen der Biennale von Venedig erarbeitete Ambiente-Ausstellung von 1976 nennen, die unter anderem das Ausstellen, die Partizipation und den Umgang mit Raum in unterschiedlichsten Ausprägungen vom frühen 20. Jahrhundert bis zur damaligen Gegenwart thematisierte. Sechs der damals vertretenen Künstler waren zehn Jahre später auch in Gent präsent (Bruce Nauman, Mario Merz, Giulio Paolini, Sol LeWitt, Jannis Kounellis, Maria Nordmann). Celant war im Übrigen während der Eröffnungsfeierlichkeit live aus Brüssel zugeschaltet, was seine Bedeutung für Jan Hoets Konzeption noch unterstreichen mag. Darüberhinaus kann man auch die von Uwe Schneede veranstalteten Ausstellungen der Inszenierten Räume von 1979 und die Künstler-Räume von 1983 im Hamburger Kunstverein nennen (Olaf Metzel, Büro Berlin: Bogomir Ecker, Raimund Kummer). Während der Hamburger Ausstellung von 1983 waren Künstler eingeladen worden, Räume unterschiedlichster Art außerhalb des Kunstvereins zu verändern und mit dem Raum als architektonisches, historisches, soziales oder auch wirtschaftliches Phänomen zu arbeiten. Mit Hamburg war Gent insofern vergleichbar, als daß beide Ausstellungen über die Auseinandersetzung mit dem Raum eine „Ästhetisierung des Alltagslebens“ suchten, wie Claudia Büttner es formulierte.

Hinter der Ausweitung des Ausstellungsraumes auf die Privatwohnung stand bei Hoet eine vordergründige Kritik an der Autorität des Museums, das er aber keineswegs abschaffen wollte. „Before Chambres d’Amis“, so Hoet, der hier künstlerische Vordenker bewußt außer Acht läßt, „nobody queried the role of ‚the museum‘.” Die Interventionen der Künstler in den Privatwohnungen sollten also nicht nur zu einem offenen Dialog über die Gegenwartskunst, sondern auch über das Museum führen. Es ist hier aber zu diskutieren, ob Hoet hinter seiner Museumskritik nicht letztlich auch eine Aufwertung der Kuratorenposition suchte, ohne gleich als Überkurator zu gelten. Obwohl Jan Hoet mit Blick auf Harald Szeemann behauptete, „nicht wieder die Eigenkonstruktion des Ausstellungsmachers“ über die Kunst setzen zu wollen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sowohl Ausstellungsrhetorik als auch Ausstellungsstruktur auf eine Stärkung der Position des Kurators zielten. Die dezentrale und gewissermaßen isolierende Struktur ermöglichte auf der einen Seite eine konzentrierte Wahrnehmung jeder einzelnen Intervention, die Ausstellung insgesamt war aber auf der anderen Seite aufgrund der Vielzahl unterschiedlichster Orte und Werke fast nicht zu erfassen. Wie Pier Luigi Tazzi im Artforum kritisch-beeindruckt feststellte, verlor man als Besucher den Überblick, „the picture never comes together“. Zwar strebte Hoet nicht danach, ein auktorialer Ausstellungsmacher in der Nachfolge Harald Szeemanns zu werden, auch gehörte er noch nicht zur „Generation Netzwerk“, wie Beat Wyss sie in seinem Vortrag bezeichnet hatte, aber er wollte als gleichberechtigter, auf seine Weise kreativer Partner an der Seite der Künstler stehen. Durch die Delokalisierung, ja fast Dekonstruktion der Ausstellung konnte er sowohl den Künstlern ihre volle Freiheit lassen als auch zugleich das Gesamtkonstrukt der Ausstellung in der alles dirigierenden Position des Kurators maßgeblich vorgeben. Entsprechend hat er in seinen Texten seine Ausstellungsidee sehr stark in den Mittelpunkt gerückt und die Aufmerksamkeit auf ihre Rezeption als Gesamtwerk gelenkt, wenn er, fast einem Schöpfer gleich, etwa von der „Schönheit“ seiner Ausstellung spricht oder in Anlehnung an Beuys die Entwicklung der Ausstellung als eine „soziale Plastik“ anstrebt.

Rezeption und Auswirkungen

Die Rezeption in einschlägigen Zeitschriften fiel extrem positiv aus. Neben sehr wenigen kritischen Stimmen wie etwa Thomas Dreher, der Hoet vorwarf, sich in der Hochphase des Kunstmarktbooms der 1980er Jahre ein privatsammlungsfreudiges und kunstmarktfreundliches Konzept angeeignet zu haben, in dem jeder Sammler bereits während der Ausstellung sehen kann, wie ein Werk bei ihm wirke, waren die Reaktion fast euphorisch. Dabei ist zu beobachten, daß die Wahrnehmung der einzelnen Arbeiten in den Hintergrund rückte und die Ausstellungsidee in den Vordergrund trat. Amine Haase, die befreundete Titelgeberin der Ausstellung, schrieb im Kunstforum: „Chambres d’Amis [… wird] mit Sicherheit unseren Blick auf Ausstellungen verändern […]. Es ist eine der originellsten Präsentationen und aufregendsten Erlebnisse auf unserem Kunst-Globus zur Zeit.“ Nichts weniger als eine kleine Revolution des Ausstellungswesens hat sie dann in ihrer Besprechung verkündet. Auch Pierre Luigi Tazzi unterstreicht die Besonderheit der Ausstellungsidee im Artforum, wo er den Besuch mit einer ‚Erforschung des Unbekannten‘ vergleicht: „This journey is something quite different: an investigation of the unknown.“

Viele Rezensionen drehten sich zunehmend um die Person Jan Hoets, da der Erfolg der Ausstellung ausschließlich ihm zugeschrieben wurde, während die Künstler demgegenüber in die zweite Reihe traten. Chambres d’Amis wurde eine Jan Hoet-Ausstellung. Auch beeinflusst von einer starken biographischen Selbstdarstellung, die bewußt antiakademisch das Charisma des Kurators noch unterstreicht, wurde Hoet durch die Ausstellung fast eine Legende. So heißt es etwa im SPIEGEL 1992 über ihn: „Kein Ausstellungsmacher, sondern ein Bekenner. […] So einer theoretisiert nicht über Kunst, er stirbt für sie.“

Ausstellungsziel und Auswirkungen

Doch die Motivation für die Entwicklung der Ausstellungsidee ist vielleicht weniger seinem Geltungsbedürfnis geschuldet, als vielmehr einem klaren Ziel, nämlich dem Bau eines eigenständigen Hauses für Gegenwartskunst. Gent galt als „ein kulturelles Brachland“ mit einer weitgehend ablehnenden Haltung gegenüber der zeitgenössischen Kunst. Zwar war 1975 aufgrund des Engagements einiger weniger Bürger im Genter Kunstverein dort das erste Museum für zeitgenössische Kunst in Belgien überhaupt eröffnet worden, dessen Leitung Jan Hoet übernahm. Doch war das Museum nicht mehr als ein provisorisches Anhängsel an das eher konservative Museum der bildenden Künste, mit nur wenigen Ausstellungsräumen, einem geringen Etat und einer geringen Akzeptanz bei den meisten Genter Bürgern. Grund genug für den Museumsmann, durch eine Großausstellung auf einen gemäßigten Konfrontationskurs zu gehen, um stärker für die zeitgenössischen Kunst und das Museum zu werben. Um aber eine Großausstellung mit über 50 Künstlern machen zu können, braucht man viel Platz, und den hatte er nicht. So drängt sich die Vermutung auf, daß bei der Entwicklung der Ausstellungsidee auch die eigene Raumknappheit eine Rolle spielte. Mit der Ausweitung des Museums auf den privaten Raum der Genter Bürger konnte er sie an sich binden und hinter einer vordergründigen institutionskritischen Rhetorik auf die räumliche Malaise seines Museums kamouflieren. Seine Zielrichtung war entsprechend nie die Überwindung des Museums, sondern im Gegenteil die Schaffung eines neuen. Deswegen sah Hoet auch in Chambres d’Amis weniger den Versuch, das Ausstellungswesen langfristig zu revolutionieren, sondern eher eine geglückte Einzelinszenierung: „Chambres d’Amis kann kein Modell sein. Man hat gesehen, daß alle Ausstellungen, die meine Idee nachgemacht haben, schlimm waren.“ (Die Flut von Ausstellungsnachahmern in den letzten 20 Jahren gibt ihm hier recht.)

Hoet wollte mit seinem Museum und der Ausstellung eine „Pionierrolle“ für die Verbreitung von Gegenwartskunst übernehmen, immer im Bewußtsein, daß er sich „auf das breite Publikum hin fügen“ müsse. Deswegen entwickelte er öffentlichkeitswirksame Strategien, die der Propagierung der Kunst und seines Museums dienen sollten, und die für den durchschlagenden Erfolg der Ausstellung mitverantwortlich sind. Zu dieser „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ gehörten neben einem ansprechenden und marketingtauglichen Titel international bekannte Künstler, viel Aufwand für mediale Berichterstattung, eine exzellente Vernetzung und eine außergewöhnlich klingende Idee, mit der sich der Kurator mit der Ausstellung den einzelnen Künstlern schöpferisch an die Seite stellt. Pressekonferenzen, die ein Jahr zuvor bereits auf die Ausstellung vorbereiten, und der massive Einsatz Informationsmaterial und Stadtwerbung trugen zu dieser Kommunikationsflut bei.

Um die Tragweite der Veranstaltung aber noch zu steigern, war Chambres d’Amis eingebettet in einen ganzen Ausstellungssommer mit verschiedenen Initiativen für die Gegenwartskunst in Gent, darunter auch die von Kasper König, Jean-Hubert Martin und Gosse Oosterhof organisierte Initiatief 86 in der Abtei Sankt Peter und eine Vielzahl von kleineren Projekten, bei denen ferngeschaltet aus Brüssel auch Germano Celant, Denys Zacharopoulos und Chris Dercon mitmachten. Diese Gesamtinszenierung machte die Stadt Gent zu einem künstlerischen Erlebnisraum, ja einem Ausstellungspark oder ganz einfach zu einem „Volksfest“, wie es in einer Rezension beschrieben wurde. Sie verlagerte stärker als bei anderen Ausstellungen bis dahin – mit Ausnahme von Kassel und Venedig – die Aufmerksamkeit der Kunstwelt auf eine Stadt und ein Event, und trug damit zu einer ‚Festivalisierung‘ der Kunstwelt in den 1990er Jahren mit bei.

Nebenbei bemerkt: Der langfristige Erfolg der Strategie stellt sich 1999 ein, als Hoet mit der Gründung des SMAK in Gent endlich ein eigenständiges Haus für zeitgenössische Kunst etablieren konnte.

Jüngere Kuratoren mögen sich in Ansätzen von Jan Hoets Vorgehensweise zumindest teilweise inspiriert gefühlt haben. So mag man an Hans-Ulrich Obrists World Soup in seiner St. Gallener Küche von 1991 oder seine Chambre 763 von 1993 in einem Pariser Hotelzimmer denken, die Obrists Ruf als intellektuellen Querdenker durch eine außergewöhnliche Ausstellungsidee mit begründeten. Man könnte auch die Ausstellung 37 Räume ein Jahr zuvor in der Berliner Auguststraße nennen, bei der die frisch gegründeten Kunst-Werke unter Klaus Biesenbach 37 Kuratoren eingeladen hatten, in 37 unterschiedlichen Wohnungen und Ateliers im Areal um die Kunst-Werke herum jeweils Einzelausstellungen zu realisieren. Auch hier konnte man die Berliner Kunstszene in einem ungewöhnlichen Terrain erkunden und neue Orte erschließen, auch hier standen aber auch die Promotion der eigenen Institution und eine gewisse Selbstdarstellung im Vordergrund, die schließlich zur Ansiedlung weiterer Galerien und erfolgreichen Gründung der Berlin Biennale führten.

Resümee

Ich komme zur Schlußbemerkung: Die Idee, mit einer öffentlichen Ausstellung in Privatwohnungen zu gehen und damit nicht nur den Raum in allen Dimensionen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch die Rolle des Museums zu hinterfragen, konnte in den 1980er Jahren, als das Museum noch die zentrale Kunstinstitution war, für Aufregung sorgen. Die Frage um die Deutungshoheit über die Kunst würde man heute vielleicht anders stellen, denn inzwischen ist das Private bedrängend öffentlich geworden – zu einer „Tyrannei“ verkommen, wie Richard Sennett es in seinem ebenfalls 1986 auf Deutsch erschienen Buch über den Verfall des öffentlichen Lebens beschreibt. Vielleicht auch ermuntert durch Hoets Ausstellung, sind inzwischen private Sammler massenhaft den umgekehrten Weg gegangen und haben aus ihren Sammlungen eigene Ausstellungshallen und Museen gemacht (Antoine de Galbert, Maison Rouge), so daß man sich heute eher Sorgen um die Unabhängigkeit der öffentlichen Institution gegenüber den privaten Sammlern machen müsste!

Ich danke für Ihre frühmorgentliche Aufmerksamkeit!

 

Literatur

  • Jan Hoet, „Chambres d’Amis – eine Evasion“, in Ausst.-Kat. Chambres d’amis, Gent 1986, S. 331–340 (dt. Übersetzung des ndl. Originals).
  • Amine Haase, „Chambres d’amis, Gent, Museum van Heedendagse Kunst, 21. Juni – 21. September 1986“, in: Kunstforum 85, 1986, S. 256ff.
  • Paul Groot, „Chambres d’amis“, in Wolkenkratzer 13/3, Juni/Juli/August 1986, S. 75-80.
  • „Home Is Where The Art Is”, in Chicago Tribune, 7.9.1986.
  • S. M. Canning, „Chambres d’Amis [artists’ rooms as galleries]”, in Museumjournaal, Nr. 3/4 (1986), S. 220-227.
  • T. Dreher, „Chambres d’Amis”, in Das Kunstwerk, Bd. 39 (Dezember 1986), S. 81-83.
  • Michael Newman, „My House is Your House: Chambres D’amis at Ghent”, Artscribe (London), Nr. 60, November/Dezember 1986.
  • H. Schubert, „Initiatief, Chambres d’amis”, Das Kunstwerk, Bd. 39 (September 1986), S. 171.
  • Pier Luigi Tazzi, „Albrecht Dürer would have come too”, Artforum (New York), September 1986, S. 124-128.
  • Jan Hoet, „L’Exposition imaginaire – contradiction in terms?“, in L’Exposition imaginaire. The art of exhibiting in the eighties (L’Exposition Imaginaire: De kunst van het tentoonstellen in de jaren tachtig), hrsg. von Evelyn Beer und Riet de Leeuw, ’s-Gravenhage: Rijksdienst Beeldende Kunst 1989, S. 328–345.
  • Amine Haase, „Jan Hoet: Ich glaube an die Kraft des Zweifels“, in: Kunstforum 100, 1989, S. 470ff.
  • Florian Rötzner, „Wir können doch nicht Munition dafür liefern, wie man einem blöden System Vitaminschübe verabreicht, Gespräch mit Kasper König“, in: Kunstforum 107, 1990, S. 361ff.
  • Dirk Schwarze, „Jan Hoets eigenwilliger Weg zur documenta 9“, in: Kunstforum Band 112, 1991, S. 420ff.
  • Jan Braet, „Das arme Herz der Welt“, in Jan Hoet. Auf dem Weg zur Documenta, hrsg. von Alexander Farenholtz, 1991.
  • Karl Ruhrberg, „Der Boxer. Was Jan Hoet mit Joseph Beuys und Muhammad Ali verbindet“, in: Kunstforum 119, 1992, S. 100ff.
  • L. Lambrecht, „Chambres d’amis”, in Flash Art International, Nr. 162, Januar/Februar 1992, S. 145-146.
  • Chambres d’amis (Art Reproduction)”, in Artforum International, Bd. 30 (April 1992), S. 63.
  • Paolo Bianchi, „Die Kunst der Ausstellung“, in: L’art exposé, hrsg. von Bernard Fibicher, Bienne 1995, S. 67–88
  • Katharina Hegewisch, „Einleitung“, in Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts, hrsg. von Katharina Hegewisch und Bernd Klüser, Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 1995, S. 8–15.
  • Jan Hoet und Rainer Metzger, „Chambres d’Amis, Gent 1986“, in Die Kunst des Ausstellens, hrsg. von Bernd Klüser und Katharina Hegewisch, Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 1995, S. 238–245.
  • Johanne Lamoureux, „The Museum Flat“, in Thinking about exhibitions, hrsg. von Reese Greenberg, Bruce W. Ferguson und Sandy Nairne, London und New York: Routledge 1996, S. 113–130.
  • Reesa Greenberg, „The Exhibition Redistributed. A case for reassessing space“, in Reesa Greenberg, Bruce W. Ferguson und Sandy Nairne (Hrsg.), Thinking about Exhibitions, London: Routledge 1996, S. 349-367.
  • René de Bok, Jan Hoet, 2003, Kap. XXI, S. 90–96.
  • Michael Stoeber, „Kunst lügt nicht. Ein Gespräch mit Jan Hoet“, in: Kunstforum 181, 2006, S. 408ff.
  • Peter J. Schneemann, „Wenn Kunst stattfindet! Über die Ausstellung als Ort und Ereignis der Kunst. Polemik oder Apotheose?“, in: Kunstforum 186, 2007, S. 64ff.
  • Jan Hoet im Gespräch mit Amine Haase, hrsg. von Susanne Pfeffer, Köln 2011 (= Alte Haasen)

Weiterführende Literatur (Auswahl)

  • Harald Szeemann, Der Hang zum Gesamtkunstwerk, 1983.
  • Die Kunst des Öffentlichen, hrsg. von Marius Babias, 1999.
  • Michael Fehr (Hrsg.), Open Box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs, Köln 1998.
  • Theresa Gleadow und Christian Rattmeyer (Hrsg.), Exhibiting the New Art. ‘Op losse Schoven’ and ‘When attitudes becomes form’ 1969, London: Koenig Books 2010.
  • Gerhard Theewen, Exhibition – Präsentation, Köln: Salon Verlag 1996.
  • Beatrice von Bismarck, „Subjekt und Kollektiv: Arbeit am Set“, in dies., Auftritt als Künstler, Köln: König 2010, S. 167–
  • Jennifer John, Dorothee Richter, Sigrid Schade (Hrsg. ), Re-Visionen des Displays, Zürich: J.P. Ringier 2008.
  • Tobias Wall, Das unmögliche Museum Zum Verhältnis von Kunst und Kunstmuseen der Gegenwart, Bielefeld: Transcript 2003 (Diss. Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, online unter https://phbl-opus.phlb.de/frontdoor/index/index/docId/5).
  • Christian Kravagna (Hrsg.), Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen/artists on institutional critique, Köln: Verlag Walther König 2001.

Allgemein Literatur zur Museums- und Ausstellungsgeschichte 19.-20. Jahrhundert (Auswahl)

  • Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ausst.-Kat., Berlin 1988.
  • Douglas Crimp, Über die Ruinen des Museums, 1996.
  • Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997.
  • Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt am Main 1999.
  • Harald Kimpel, Documenta. Die Überschau. Fünf Jahrzehnte Weltkunstausstellung in Stichwörtern, Köln 2002.
  • Rosmarie Beier-de Haan, Erinnerte Geschichte – inszenierte Geschichte. Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2005.
  • Andrew Garn, Weltausstellungen 1933–2005. Architektur, Design, Graphik, München 2008.
  • Sabine B. Vogel, Biennalen – Kunst im Weltformat, Wien 2010.
  • Kristina Kratz-Kessemeier u.a. (Hrsg.), Museumsgeschichte. Kommentierte Quellentexte 1750–1950, Berlin 2010.
  • Alice von Plato, Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010.

Weitere Dokumente

Powerpointpräsentation des Vortrags: bussmann_cda_gent1986

Ungekürzte, nicht vorgetragene Langfassung des Vortrags: Langfassung

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